Handlungsanleitung

Latente Differenzierung  – wenig Aufwand, hoher Ertrag

Es gibt Lerngruppen, die nicht gerne in Gruppenarbeit aufgeteilt werden wollen und auch nicht sofort im Schwierigkeitsgrad divergierende Aufgabenstellungen bearbeiten möchten. Sie bevorzugen erst einmal den Schutz der Gesamtgruppe. Gerade in der Bildungsarbeit mit Geringqualifizierten treffen Lehrende immer wieder auf den expliziten Wunsch der Lernenden, einstweilen zusammen lernen zu wollen: Das Gemeinsame steht zunächst für sie vor der Individualisierung.

Für solche Fälle eignet sich die latente Differenzierung als eine subtile Form des Umgangs mit Heterogenität innerhalb einer Lerngruppe. Hierzu finden Sie nachfolgend einige praxisbewährte Vorgehensweisen, von denen Sie womöglich die eine oder andere bereits kennen. Fühlen Sie sich dann ermutigt, diese noch bewusster zur Bearbeitung von heterogenen Lernvoraussetzungen einzusetzen.

Beschreibung

Bei der latenten Differenzierung wird die gesamte Gruppe zusammen unterrichtet. Die Methoden der unterschwelligen Differenzierung sind also in den Unterrichtsverlauf integriert und adressieren – entsprechend der jeweiligen pädagogischen Intention – einzelne Lernende oder die Gesamtgruppe. Es gibt vier Grundformen der latenten Differenzierung:  Die Lehrkraft

  • stellt individuelle Fragen an Lernende,
  • gibt individuelle Hinweise an Lernende,
  • führt individuelle Korrekturen durch,
  • stellt offene Fragen an die Gesamtgruppe.

Diese Grundformen der latenten Differenzierung entsprechen dem Lehrverhalten, das man als Kursleiter/in kennen und beherrschen sollte. Es ist das klassische Handwerkszeug, mit dessen Hilfe Lehrende Differenzierungen vornehmen.

Latente Differenzierung kann eher lehrorientiert oder eher lernorientiert praktiziert werden:

  • Die lehrorientierte Vorgehensweise geht davon aus, dass ein bestimmtes Lernpensum in einer vorgegebenen Zeit von jedem Lernenden zu absolvieren ist. Die Lehrkraft bestimmt, curricular geleitet, die Lerninhalte sowie die Lernziele und differenziert in ihrem Lehrverhalten zwischen den eher schwächeren und eher stärkeren Lernenden, den eher langsameren und eher schnellen Lernenden. Fragen, Hilfestellungen und Korrekturen werden auf einzelne Teilnehmende hin formuliert, wobei der Schwache eher geschützt, der Starke eher gefordert wird. Letztlich geht es darum, die Starken und die Schwachen mitzunehmen, damit alle das vorgegebene Lernziel erreichen. Allerdings stößt die lehrorientierte Differenzierung auch an ihre Grenzen, weil zum einen das Vorbereiten differenzierter Lern- und Arbeitsmaterialien zeitaufwändig ist. Zum anderen beinhalten "exzessive Differenzierungen" (Klippert 2012, S. 81) das Risiko, dass die "guten" Lerner "immer besser und die Schwächeren eher schwächer werden" (ebd.).
  • Die lernorientierte Umsetzung, die sich in der Erwachsenenbildung gegenüber der lehrorientierten Variante besser bewährt hat, basiert auf der Grundhaltung, Lernende in ihren individuellen Besonderheiten und mit ihren biographisch erworbenen unterschiedlichen Kompetenzen, Neigungen, Interessen, Zielen und Lebensperspektiven zum Bezugspunkt von Lehren zu machen: Die Fragen, die Hinweise, die Hilfestellungen, die Korrekturen werden individuell auf einzelne Teilnehmende hin formuliert. Sie dienen dann dazu, dass sich die einzelnen Lernenden jeweils – unter ihren individuellen Bedingungen, auf ihrem Kenntnis-, Fähigkeits- und Erfahrungsstand aufbauend – die Unterrichtsinhalte erarbeiten und entscheiden können, in welcher Form sie diese in ihrem Gedächtnis verankern, d. h. sie gleichen diese mit ihren Zielen und Perspektiven ab.

Einsatz

Individuelle Fragen stellen

Die Lehrkraft aktiviert und ermutigt durch Fragen zum Thema die einzelnen Teilnehmenden, sich mit dem eigenen Wissen, den eigenen Erfahrungen und Meinungen am Unterricht zu beteiligen.

Dabei gilt:

  • Insbesondere, wenn es darum geht, dass Sie sich vergewissern wollen, was vom Lernstoff hängen geblieben ist, achten Sie darauf, Fragen zu formulieren, von denen Sie ausgehen, dass der/die Angesprochene zu diesen etwas sagen kann und will.
  • Achten Sie darauf, nicht nur individuelle Wissensfragen zu formulieren, sondern auch Fragen zu Erfahrungen mit dem Thema und Meinungen zu dem Inhalt. Fragen Sie auch nach möglichen Verwendungen/Anwendungen. Kurz: Regen Sie mit Ihren Fragen das Nachdenken und Verarbeiten eines Themas an.
  • Da im gemeinsamen Unterricht die individuellen Fragen immer vor den Augen aller gestellt werden, achten Sie darauf, dass Sie sich räumlich in die Nähe des Teilnehmenden begeben und in zugewandter Körperhaltung die Frage stellen.

Vorsicht: Nutzen Sie Fragen nicht zur Disziplinierung oder zum Erzwingen von Aufmerksamkeit. Bedenken Sie die möglichen verheerenden Wirkungen: Disziplinierende Fragen lösen bei wenig selbstbewussten und vorwiegend misserfolgsorientierten Lernenden Ängste aus. Ängste bewirken wiederum Lernblockaden. Demgegenüber sollen Fragen vor allem Neugierde und Interesse wecken. Werden sie jedoch zur Disziplinierung funktionalisiert, bremsen sie diese positiven Effekte aus.

Individuelle Hinweise geben

Die Lehrkraft geht im Unterricht auf einzelne Lernende zu und gibt ihnen Tipps, Hilfestellungen oder sonstige Hinweise. Auslöser ist eine Lernerfrage oder eine Beobachtung/Wahrnehmung der Lehrkraft.

Dabei gilt:

  • Was Sie ansprechen, kann sich auf das Lernthema beziehen, wenn Sie z. B. wissen, dass jemand  besonderes Interesse an dem gerade behandelten Themenabschnitt hat oder  bereits über gute Vorkenntnisse und Erfahrungen verfügt.
  • Was Sie ansprechen, kann sich auch auf den individuellen Lernprozess beziehen, beispielsweise wenn Sie wissen, dass einzelne Teilnehmende gerne etwas darüber erfahren, wo sie das aktuell im Unterricht Behandelte noch einmal nachlesen oder vertiefend recherchieren können.

Individuelle Korrekturen durchführen

Lernende wissen, dass Korrekturen im Lernen üblich sind. Lehrkräfte können individuelle Korrekturen wie folgt durchführen, wobei sie darauf achten sollten eine Korrektur nur dort einzusetzen, wo es um einen Sachverhalt geht, der in "richtig" und "falsch" eingeteilt werden kann oder ein absehbarer Schaden vermieden werden muss.

Dabei gilt:

  • Sprechen Sie direkt den einzelnen Lernenden an, wenn ein geleisteter Beitrag (mündlich oder schriftlich) nicht richtig ist. Dazu wenden Sie sich explizit an den Lernenden, der die Leistung erbracht hat. Sie vermeiden damit, dass sich Lernende bloßgestellt fühlen, zeigen Respekt vor der Lernleistung und befördern eine positive Fehlerkultur.
  • Greifen Sie eine mündliche oder schriftliche Leistung eines Lernenden auf und richten die Korrektur an die ganze Gruppe, nutzen also individuelle Korrekturen als Lernanlass für die ganze Gruppe. In diesem Fall profitiert nicht nur der Einzelne von seinem Fehler, sondern die Gruppe zusammen von den jeweiligen Fehlern.

 Offene Fragen an die Gruppe stellen

Sie stellen Ihre Fragen an die gesamte Gruppe und warten ab, wer sich einbringt. In der Regel entscheiden hier die Teilnehmenden selbst, wer sich wie einbringt. Auch bei offenen Fragen ist es wichtig, dass sie nicht nur auf den Lerngegenstand im engeren Sinne bezogen sind, also Fragen zur Vergewisserung, ob der Stoff verstanden wurde. Es geht auch darum, Fragen zu individuellen Erfahrungen, Meinungen, Haltungen sowie zur Verwertbarkeit des Unterrichtsthemas zu stellen.

Dabei gilt:

  • Lassen Sie Zeit zum Nachdenken, nachdem Sie die Frage gestellt haben. Lernende wollen ihre Antwort gedanklich vorbereiten können und entscheiden, inwiefern sie ihren Gedanken öffentlich äußern.

Vorsicht: Fragen wie „Haben das jetzt alle verstanden?“ oder „Ist noch etwas unklar?“ taugen nicht zur Vergewisserung. Gerade misserfolgsängstliche Lerner werden ihre Wissenslücke nicht öffentlich machen. Fragen Sie lieber verwendungsorientiert, z.B.: „Wo werden Sie das (Gelernte) ausprobieren/einsetzen?“ „Wie könnte sich das konkret in Ihrem Arbeitsalltag zeigen?“

Einsatz

Bewährt hat sich die latente Differenzierung insbesondere in der Bildungsarbeit mit kleineren Gruppen (2-10 Teilnehmende), weil hier die Kursleitung zwischen dem Einsatz der verschiedenen Formen situationsangemessen wechseln kann. Bei größeren Gruppen wird das schwieriger. Man muss dann sehr darauf achten, alle Lernenden zu aktivieren und zu begleiten. Außerdem sollte die Zusammensetzung der Lerngruppe im Hinblick auf die Heterogenität der Teilnehmenden nicht zu stark differieren.

Zielgruppe

Bewährt hat sich die latente Differenzierung insbesondere in der Bildungsarbeit mit kleineren Gruppen (2-10 Teilnehmende), weil hier die Kursleitung zwischen dem Einsatz der verschiedenen Formen situationsangemessen wechseln kann. Bei größeren Gruppen wird das schwieriger. Man muss dann sehr darauf achten, dass man alle Lernenden aktiviert und begleitet.

Voraussetzungen  und Rahmenbedingungen

Die latente Differenzierung kann unter allen Rahmenbedingungen praktiziert werden. Es sind prinzipiell keine besonderen Voraussetzungen hinsichtlich Raum, Material oder Kosten zu beachten. Da die latente Differenzierung in der Gesamtgruppe stattfindet, ist auch kein zusätzlicher Zeitaufwand in der Durchführung nötig. Gleichwohl brauchen allerdings einige der Vorgehensweisen Zeit für die Vorbereitung, weil Sie etwas über die Lernvoraussetzungen und -bedingungen Ihrer Teilnehmenden wissen müssen.

Pro & Contra

Die latente Differenzierung ist didaktisch durchaus voraussetzungsvoll, insbesondere in Bezug auf die Arbeit mit Geringqualifizierten. Man muss als Lehrkraft sehr genau wissen, was die einzelnen Lernenden jeweils wollen, können und brauchen.

Aber auch wenn Lehrende sich intensiv mit den Lernvoraussetzungen, Lernzielen und Lebensperspektiven ihrer Teilnehmenden in der Anfangssituation eines Kurses befasst haben, bleibt ein methodisches Problem: Es ist für Lehrende – insbesondere in größeren Gruppen – nicht immer leicht oder gar einlösbar, wirklich alle Lernenden zu erreichen. Es gibt zweifellos auch Lernende, die sich direkter Ansprache im Unterricht zu entziehen suchen und sich auf offene Fragen nicht zu Wort melden.

Aus diesem Grunde ist es wichtig, alle hier vorgestellten Formen der latenten Differenzierung einzusetzen: Durch die unterschiedlich intensive Individualisierung können so die unterschiedlich temperamentvollen und unterschiedlich interessierten Teilnehmenden doch noch erreicht werden.

 Weiterführende Hinweise

Im Reader Vierzig Wege der Binnendifferenzierung für heterogene LernerInnen-Gruppen finden Sie einen Abschnitt zur latenten Differenzierung bezogen auf Deutsch und andere Erstsprachen im gemeinsamen Alphabetisierungskurs.

CC BY-SA 3.0 by Rosemarie Klein für wb-web

Literatur:

Klippert, H.  (2012). Heterogenität im Klassenzimmer: Wie Lehrkräfte effektiv und zeitsparend damit umgehen können. Weinheim:  Beltz. 3., unveränderte Aufl.



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