Erfahrungsbericht

Den Menschen als Menschen sehen

Jede Person muss als vollwertig angesehen werden und darf nicht geringgeschätzt werden. Der Punkt ist ganz einfach: den Menschen als Persönlichkeit zu sehen, egal welche Qualifizierung er hat. Es geht also um Wertschätzung des Einzelnen, denn damit hilft man den Lernenden weiter. Das ist der Tenor im folgenden Erfahrungsbericht aus dem Projekt „Life Balance“ der sci:moers gGmbH. 

Iris Poljak leitet das Projekt „Life Balance“. Im Interview mit wb-web stellt sie das Projekt näher vor.

wb-web: Frau Poljak, was ist das für ein Kurs, den Sie gerade machen?

Iris Poljak: Der Kurs heißt „Life Balance“. Life Balance bedeutet, das Leben wieder in Einklang zu kriegen. Wir begleiten Langzeitarbeitslose, die Vermittlungshemmnisse oder Vermittlungsstörungen in den Arbeitsmarkt haben und Menschen, die wieder lernen müssen, ihren Tag zu strukturieren. Ich habe jetzt eine sehr gemischte Gruppe: körperliche Störungen, aber auch psychische Störungen, Teilnehmende im Alter von 19 bis 60 Jahren, Bildungsstand von Förderschule bis zu Studium.

wb-web: Was machen Sie in dem Kurs?

Iris Poljak: Wir haben ein Sportprogramm in unserer Maßnahme: Zweimal die Woche gehen wir in ein Fitnessstudio, da wird aktiv Sport betrieben, es gibt täglich eine Sporteinheit, Kreislauftraining, viel nach draußen gehen, spazieren. Wir machen manchmal auch Besorgungen, gehen z.B. zum Markt. Dabei ergibt es sich, dass man sehr gut ins Gespräch kommt. Dreimal wöchentlich sind wir in einem intensiven Bewerbungstraining. Es geht nicht nur um das Bewerbungsschreiben, sondern auch das Bewerbungsverhalten: Wie gebe ich mich? Wie öffne ich mich? Wie spreche ich? Wie komme ich überhaupt zum Bewerbungsgespräch?

Insgesamt lernen die Teilnehmenden hier bei uns, ihren Tagesablauf, ihre Tagesstruktur zu gestalten, einen Essensplan zu erstellen. Und am Ende der Woche können sie ihre positiven Eintragungen einmal durchzählen, nochmal nachlesen und dann kommt oftmals die Empfindung, dass alles gar nicht so schlimm ist.

Wenn die Balance ins Wanken gerät – Umgang mit Konflikten im Kurs

wb-web: Wie sieht es mit Konflikten aus?

Iris Poljak: Wenn die Teilnehmenden Probleme haben oder Konflikte, werden die sofort aufgegriffen. Je nach Art von Störung, dann auch mal intensiver. Beispielsweise: ich hatte letzte Woche so einen „Fall“. Der war nur am Nörgeln und stand permanent auf. Hat er einen Arbeitsauftrag bekommen, ist er dem Arbeitsauftrag nicht nachgekommen. Den habe ich dann sofort zu mir ins Büro geholt. Der ist auch reingekommen und dann habe ich erst mal dafür gesorgt, dass die Luft raus geht und einfach gefragt: „Was ist denn überhaupt los?“ Welche Ursache, welche Störung jetzt überhaupt bei ihm aufgetreten ist, wollte ich wissen. Es stellte sich heraus, dass er Probleme mit der Partnerin hatte und wir haben dann versucht, eine Lösung zu finden. Ein anderer Teilnehmer hat sich bereit erklärt, ihn zu unterstützen und das Problem war innerhalb von zwei Tagen recht schnell gelöst und er war wieder ausgeglichener.

wb-web: Störungen und Konflikte sind ja auch immer abhängig davon, was ich als Störungen und Konflikte wahrnehme. Was sind für Sie als Kursleiterin, als Dozentin, Störungen und Konflikte in einer Lerngruppe?

Iris Poljak: Für mich ist eine Störung zum Beispiel, wenn Teilnehmende Arbeitsaufträge nicht annehmen wollen, also permanent die Arbeitsaufträge in Frage stellen. Damit wird auch signalisiert, dass der Unterricht für diese Person im Moment nicht sinnvoll ist. Wenn er oder sie dann noch versucht, auch andere mit auf seine Seite zu ziehen, weil er oder sie keine Lust hat diese Arbeit zu erledigen und versucht dieses ganze Projekt zu kippen, dann muss ich schnell eingreifen. Entweder hole ich die Person direkt aus der Gruppe, gebe dieser Person einen anderen Arbeitsauftrag; denn auf große Diskussionen darf ich mich da nicht einlassen, dann habe ich sie erst recht alle brach liegen, oder ich ignoriere das ganz einfach. Das kommt immer auf die Situation an. Da kann ich mit Härte wenig erreichen, aber mit Konsequenz. Außerdem muss ich den Interessenfaktor bei dieser Person finden. Was interessiert sie oder ihn? Womit kann ich sie oder ihn begeistern? Störend ist es auch, wenn Teilnehmende permanent zu spät kommen, bewusst zu spät kommen.

wb-web: Können Sie Störungen und Konflikten vorbeugen?

Iris Poljak: Ja, schon. Oftmals haben diejenigen, die zu spät kommen, psychosomatische Störungen und können aufgrund von Medikamenten nicht früh aufstehen. Aber durch den Sport haben wir festgestellt, dass die Medikation in vielen Fällen verringert werden konnte und das Problem mit der Unpünktlichkeit verschwindet.

Wir haben auch Teilnehmende, die Drogen konsumieren. Auch da hilft die Aktivität, durch den Sport, durch die Gespräche, durch Toleranz, durch Verständnis und - ja ich würde sagen - auch durch Menschlichkeit. Einfach den Menschen als Menschen sehen und nicht nach dem, was er durch seine Qualifizierungen ist. Es geht mehr darum zu fragen, warum er in dieser aktuellen Lebenssituation ist. Dann habe ich schon erlebt, dass der Schalter bei Teilnehmenden umgelegt wurde.

Ich finde es auch wichtig, mich gut vorzubereiten, um strukturiert zu arbeiten. Ich bereite vielfältige Aufgaben und Anregungen vor. Es müssen natürlich sinnvolle, klare Aufgaben sein, die etwas mit dem Kurs zu tun haben, die etwas mit den Menschen zu tun haben. Das muss bzw. kann nicht für jeden gleich sein. Mit den Damen zum Beispiel mache ich einen Schminkkurs oder wir machen einen Styling-Kurs. Ich arbeite auch schon mal nur mit den Männern, dann sprechen wir konkrete Fragen und Probleme durch, Kleidung und Frisur, irgendwelche Pflegetipps. Manchmal machen wir das in einer großen Gruppe. Bei hygienischen Problemen werden auch schon einmal Einzelgespräche geführt. Das ist quasi als würde man einen eigenen Kurs noch zusätzlich dazu schneidern.

Am Bedarf der Lernenden entlang aktiv eingreifen 

wb-web: Wie wichtig erleben Sie Regeln zur Minimierung von Störungen und Konflikten?

Iris Poljak: Wir legen sehr viel Wert auf Pünktlichkeit, regemäßiges Erscheinen, sich abmelden, sich anmelden, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einreichen, also die üblichen Regeln, die auch auf dem Arbeitsmarkt gelten. Außerdem gilt im Kursalltag: Es redet immer nur eine oder einer, man meldet sich, wenn der eine redet, dann wartet man ab. Wir legen viel Wert darauf, dass jeder seine Kritik äußern darf, aber konstruktiv. Man darf nicht auf die persönliche Ebene gehen. Wenn persönliche Störungen da sind, dann werden die Menschen zusammengebracht und dann müssen die das auch miteinander ausdiskutieren und besprechen.

wb-web: Fallen Ihnen Beispiele ein, gelungene Beispiele, wo Sie sagen „Ja, das war in der Tat eine Störung, ein Konflikt und durch diese Intervention ist das gut gelöst worden“?

Iris Poljak: Diese Verweigerungshaltung und das Zuspätkommen, das sind eigentlich die Hauptstörungen. Okay, da sagt die Gruppe ganz klar „Das ist nicht in Ordnung von dir, das finden wir nicht gut, komm halt pünktlicher“ und dann führen wir nochmal ein Einzelgespräch. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Leute, die hier sehr, sehr stark interessiert sind an dieser Maßnahme, sehr stark mit den anderen mitarbeiten, um sie mitzuziehen, zu aktivieren. Es gibt eine „Life-Balance“ Gruppe über WhatsApp. Darüber halten die Teilnehmenden untereinander Kontakt. Heute zum Beispiel musste ein Teilnehmer kurzfristig zu einer medizinischen Untersuchung; der hat der Gruppe dann Bescheid gegeben. Und heute Morgen habe ich auch noch von ihm direkt die Nachricht erhalten, dass er heute später kommt. Das war ein Kandidat, der wollte schon drei Mal die Maßnahme abbrechen. Da hatten wir einen Konflikt! Es ist ein ausländischer Teilnehmer, der sich nicht gerne etwas von einer Frau sagen lassen will. Das war unser erster Konflikt. Ich habe ihm zu verstehen gegeben, dass ich sehr viel Wert darauf lege, dass er in meiner Maßnahme ist. Dass er ein wertvoller Bestandteil ist in dieser Maßnahme und dass Konflikte dazu da sind, um sie auch zu lösen.

Störfaktoren analysieren, Struktur geben

wb-web: Ist der Tipp also, möglichst eine teilnehmerorientierte Lösung zu finden?

Iris Poljak: Genau, richtig. Es geht darum, den Teilnehmenden viel Zeit zu geben und eine gemeinsame Arbeitsbeziehung langsam aufzubauen, die sich an den Bedürfnissen der Lernenden orientiert. Jeder, wie er es eben braucht. Es ist wichtig, den individuellen Punkt zu finden. Das erste, was wir überhaupt machen, ist, den Menschen kennenzulernen. Warum ist er dahin gekommen, wo er jetzt ist? Warum kommt er da nicht raus? Was spielt alles eine Rolle im Hintergrund? Wie ist z.B. der Tagesablauf einer Person? Die Teilnehmenden erarbeiten alle erst einmal eine eigene Planung, eine eigene Zielsetzung. Was möchten wir überhaupt erreichen? Wo ist das Problem? Das muss erst mal erfasst werden. Was hat zum Problem geführt, wie kann ich diese Probleme lösen? Wer hilft mir dabei, wer kann mir dabei helfen? Wen muss ich vielleicht mit dazu nehmen? Brauche ich vielleicht den psychologischen Dienst, brauche ich noch einen Drogenberater oder brauche ich einen Schuldnerberater oder einen Anwalt?

wb-web: Die Frage danach „Was brauche ich?“ ist also der Lerngegenstand in den ersten Wochen?

Iris Poljak: Genau, um wirklich erst einmal den Menschen kennenzulernen. Es braucht die regelmäßigen Einzelgespräche. Und man muss sehr viel beobachten. Wann kippt eine Situation? Dann auch mal nachfragen, Feedback-Runden führen: „Wie war der Tag für euch?“. Und wenn eine Frau sagt „langweilig“ – „ja warum langweilig, wie können wir das ändern? Was würdet ihr gerne machen wollen?“ Es geht auch darum die Möglichkeit zu geben, den Tag mitzugestalten.

wb-web: Was fordert das von Ihnen als Kurleiterin?

Iris Poljak: Also manchmal geht’s einen schon an. Es kommt natürlich auch auf meine psychische Situation an, aber ich lasse das möglichst nicht so nah an mich heran. Oftmals, wenn auch lautere Worte gefallen sind und heftige Diskussionen geführt wurden, dann kommen die Teilnehmenden oft und entschuldigen sich. Oft auch schon am gleichen Tag oder in den nächsten paar Minuten. Also da ist schon eine sehr, sehr hohe Vertrauensbasis, auf die ich setzen kann.

wb-web: Was ist Ihre Empfehlung für andere Kursleitende zum Umgang mit Störungen - in einer solchen gemischten Gruppe?

Iris Poljak: Ganz klar: Den Störfaktor erst mal analysieren und Struktur geben. Das heißt, im Moment einer Störung sofort darauf reagieren und nachfragen warum, weshalb. Das ist ganz wichtig, damit die Gruppe sieht, es passiert etwas. Dass die Gruppe sagt: „Ja, da ist jemand, der kümmert sich um die Störfaktoren.“ Auch wenn man nicht sofort einen guten Klärungsweg findet oder der Weg nicht sofort funktioniert: Der Gruppe wird signalisiert, Störungen werden nicht übersehen oder ignoriert, sondern man kümmert sich.

CC BY-SA 3.0 DE by Rosemarie Klein und Dieter Zisenis für wb-web



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