Erfahrungsbericht

Die Kunst des Zulassens und damit Umgehens

Dass das Zulassen von Widerstand in Lern-Lehrsituationen unumgänglich ist, darum geht es in diesem Erfahrungsbericht. Anhand eines praktischen Beispiels erläutert Lea Pelosi, warum es gut ist, den Teilnehmenden zuzugestehen, dass sie gute Gründe für ihr Verhalten und ihre Einschätzungen des Kurses haben.

Bauklötze in bunten Farben

Die Turmbau-Übung nach Klaus Antons fördert Kooperation und Wettbewerb und kann so Konflikte auslösen. (Bild: Counselling/pixabay.com, CC 0)

Störungen und Konflikte in Lerngruppen sind oft weniger durch persönliche Eigenschaften als durch Gruppen- oder Lernprozesse bedingte widerständige Verhaltensweisen. Dabei ist mit Widerstand eine meist nur teilweise reflektierte kritische Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten der Lernsituation gemeint. Es gilt daher angesichts solcher Ereignisse eine Spannung auszuhalten: den Widerstand grundsätzlich als begründet wahrzunehmen und entsprechend zu respektieren, aber gleichzeitig nicht zu erwarten, dass die Gründe für ihn genau zu erfassen sind. Meist ist es nicht nötig, sie im Detail zu kennen, und oft ist es sogar kontraproduktiv. Denn wer Widerstand leistet, kann sein Verhalten oft nicht angemessen begründen. In diesem Fall treibt die Frage nach dem „Warum“ die Person in die Enge und verstärkt den Widerstand.

Die Kunst des Zulassens

Im Aushalten dieser Spannung zwischen respektvollem Interesse und ebenso respektvoller Zurückhaltung liegt die „Kunst des Zulassens‟, um die es mir nach meinen Erfahrungen geht.

Die Kunst des Zulassens bedeutet dabei zum einen das Zulassen des Nichtwissens um die Gründe für den Widerstand (und damit eine Einschränkung der eigenen Kontrolle über den Kurs), zum andern das Zulassen des eigenen Unbehagens in solchen Situationen. Und es bedeutet natürlich überhaupt das Zulassen von unterschiedlichen, sogar widersprüchlichen Wahrnehmungen und Einschätzungen, aus denen Störungen und Konflikte meist erwachsen.

Die Kunst des damit Umgehens betrifft das Schaffen von Möglichkeiten im
Lern-/Lehrgeschehen, in denen unterschiedliche Wahrnehmungen und Einschätzungen zum Ausdruck kommen sowie die Fähigkeit, solche Möglichkeiten – das können etwa Diskussionsrunden, Auswertungen von Lernaktivitäten, Evaluationen des Lernprozesses – zu moderieren. Diese Wahrnehmungen und Einschätzungen können sich als Ressourcen erweisen,

Damit Umgehen in der Praxis

Mit Blick auf ein Praxisbeispiel können die vorangegangenen Thesen erläutert werden. Es handelt sich um eine Kurssequenz in einem Lehrgang zur Erlangung des Zertifikats als Erwachsenenbildner/in in der Schweiz; die Zielgruppe sind Kursleitende im Integrationsbereich. Es handelt sich also um eine Train-the-Trainer- Fortbildung mit Erwachsenen. Den Einstieg in den Lehrgang bilden fünf Kurstage am Stück, die für die Teilnehmenden sowohl inhaltlich als auch zwischenmenschlich sehr intensiv sind und gerade deshalb den Gruppenbildungsprozess beschleunigen. Gruppenbildungsprozesse und die Frage nach dem Umgang mit Störungen und Konflikten sind so im Laufe der Woche zum einen als Lehrgangsinhalt und zum andern als Gegenstand der eigenen Erfahrung präsent.

Die Teilnehmenden sollen sich damit auseinandersetzen, inwiefern Störungen und Konflikte zur Gruppenbildung gehören und daher nicht ohne Weiteres unterbunden werden können. Die Auseinandersetzung hat zum Ziel, den Teilnehmenden die Erfahrung zu ermöglichen, dass Zulassen unumgänglich ist und dass dieses Zulassen nicht als ein Ausdruck von Passivität, sondern als ein spezifischer Umgang mit Widerstand bzw. als eine spezifische Interventionstechnik, zu verstehen ist.

Konflikte und Widerstände  spielerisch erproben

Um diesen Sachverhalt zu verdeutlichen, führen wir u. a. mit der Kursgruppe am letzten Kursnachmittag einen Methoden-Klassiker der Gruppentheorie durch: die Turmbau-Übung nach Klaus Antons, bei der es um Kooperation einerseits, um Wettbewerb andererseits geht. Meist haben sich die Teilnehmenden im Lehrgang bereits recht gut eingerichtet und provisorische Rollen eingenommen. Das Setting der Übung erfordert dagegen das Übernehmen von neuen oder sogar generell ungewohnten Aufgaben und Rollen, wodurch die noch labile erste Ordnung teilweise durcheinandergewirbelt wird. Es kann zu Spannungen und Konflikten bei der Organisation der Zusammenarbeit kommen. Die Wettbewerbssituation schafft dabei eine produktive Gleichzeitigkeit von Ernsthaftigkeit und Spiel, denn die meisten wollen zwar gewinnen und strengen sich entsprechend an, tendieren aber dennoch dazu, entstehende Konflikte und Widerstände im Hinblick auf die spielerische Situation zu relativieren – was auch in realen Fällen von Störungen und Konflikten eine sinnvolle Grundvoraussetzung ist.

In der Besprechungsphase zeigt sich das weitgespannte Spektrum von Wahrnehmungen, Stellungnahmen und Anregungen. Dadurch realisieren die Teilnehmenden, dass Konflikte auf im Grundsatz berechtigten, aber divergenten Perspektiven, Wertvorstellungen, Einschätzungen der Situation, Prioritäten etc. basieren, die über ihr Konfliktpotenzial hinaus auf die Vielfalt der Ressourcen hinweisen. Und sie realisieren überdies, dass diese unterschiedlichen bzw. sogar widersprüchlichen Ressourcen für eine erfolgreiche Kooperation nutzbar gemacht werden können.

Konflikte brauchen Raum

Das verdeutlicht, dass Konflikte auch ein Gradmesser dafür sein können, inwieweit die Gruppenmitglieder bereit sind, ihre jeweils spezifischen Ressourcen einzubringen. Es verdeutlicht auch, dass die Kunst des Zulassens und Umgehens mit diesen Konflikten darin besteht, ihnen – zum Beispiel in spielerischer Form – einen Raum zu bieten, in dem sie sichtbar werden und ihr produktives Potenzial entfalten können.

Die Besprechung ist so gestaltet, dass ausnahmslos von allen eine Stellungnahme erwartet wird, wobei Nachfragen oder Reaktionen auf diese Stellungnahmen möglich sind, aber langwieriges Ausdiskutieren vermieden wird. Dadurch realisieren die Teilnehmenden, dass es oft ausreicht, eine Stellungnahme als solche in Betracht zu ziehen und zu respektieren, um dem Widerstand das Störpotenzial zu nehmen oder um Konflikte zu entschärfen.

Es wird greifbar, dass Kursgruppen keine therapeutischen Settings sind, in denen es allem auf den Grund zu gehen gilt. Die Kunst des Zulassens und Umgehens mit den Widerständen zeigt sich als die Kunst anderen zuzugestehen, dass sie gute Gründe für ihr Verhalten und ihre Einschätzungen haben, auch wenn man selbst diese Gründe nicht kennt. Auf der Basis dieses Zugeständnisses kann durchaus auch Mitverantwortung für die Gestaltung der Zusammenarbeit eingefordert werden.

 

CC BY SA 3.0 by Lea Pelosi für wb-web


Das könnte Sie auch interessieren

Passende Wissensbausteine

Passendes Material