Fallbeispiel

Wenn das Rollenspiel zum Ernstfall wird

Rollenspiele bieten sich an, wenn es darum geht, Arbeitssituationen zu simulieren und dies möglichst realitätsgerecht. Schwierig kann es aber werden, wenn die kommunikativen und rhetorischen Kompetenzen ungleich zwischen den Rolleninhabern verteilt sind und sich der eine Lernende vom anderen vorgeführt fühlt. Bahnt sich ein Konflikt an? Wann ist für Kursleitende der richtige Zeitpunkt für eine Intervention und wie kann diese dann aussehen? 

Zwei Frauen und ein Mann sitzen und unterhalten sich

Im Theater fällt keiner aus der Rolle. Was ist im Kurs zu tun, wenn dies beim Rollenspiel passiert?

Die Situation 

Frau Kant unterrichtet in einer Qualifizierungsmaßnahme der Agentur für Arbeit angehende Pflegehelferinnen. Die 15 Teilnehmerinnen stellen eine sehr heterogene Gruppe dar. Die Altersspanne reicht von 26 bis 54 Jahren, die Hälfte hat einen Migrationshintergrund, vier Teilnehmerinnen verfügen über keinen Schulabschluss, fünf haben im Herkunftsland Abitur gemacht, das hier nicht anerkannt wird, einige sind seit Jahren arbeitslos. Ziel dieser Unterrichtswoche ist die Förderung kommunikativer Kompetenzen. Heute sollen in Rollenspielen Gespräche mit Angehörigen geübt werden. Zwei Teilnehmerinnen des Kurses erklären sich bereit die Rolle einer besorgten Tochter und einer Pflegerin zu übernehmen. Die Rolle der Pflegerin übernimmt dabei eine junge Auszubildende mit Migrationshintergrund, deren Deutschkenntnisse noch nicht ganz gefestigt sind. Es entspinnt sich folgendes Gespräch im Rollenspiel:

Frau Kant wird klar, dass sie intervenieren muss.

Mögliche Sichtweisen auf die Situation und darin bestehende Probleme 

Rollenspiele stellen in der Erwachsenenbildung häufig praktizierte Verfahren dar, um Situationen möglichst nahe an einer Realsituation zu simulieren und Verhaltensweisen einzuüben bzw. Verhaltensalternativen durchzuspielen. Rollenspiele ermöglichen den Akteuren, in einem Schutzraum neue, eventuell sogar atypische Verhaltensweisen zu erproben. Der Schutz ergibt sich daraus, dass nicht das Ich agiert, sondern in der Funktion des Rollenträgers, also außerhalb der eigenen Verantwortung, gehandelt wird. Das Ich kann also „in eine Rolle verfallen“, die dem eigenen Selbstbild nicht entsprechen muss. Sanktionen für abweichendes Rollenverhalten sind nicht zu erwarten, weil das Verhalten als Rolleninhaber und nicht als das der eigenen Person gewertet wird. Wie das Fallbeispiel zeigt, ist damit das Risiko angelegt, im Schutz der Rolle eigene Aggressionen auszuleben oder latente Konflikte öffentlich zu machen. Dies spricht nicht gegen den Einsatz von Rollenspielen, sondern soll nur zeigen, auf welche Eventualitäten sich Lehrende einstellen sollten.

Für Frau Kant kommt der Ausbruch im Rollenspiel dann unerwartet, wenn sie die in der Gruppe oder bei einzelnen Lernenden schlummernden Konflikte bisher nicht wahrgenommen oder sie zwar registriert hat, aber die Dimension ihr nicht klar war. Vielleicht hat sie die vorhandenen Konflikte in der Hoffnung bagatellisiert, dass sie sich nicht gerade in ihrem Unterricht manifestieren werden.

Bei der Lernenden, die sich im Rollenspiel provoziert fühlt, können wir nur darüber spekulieren, was sie dazu gebracht hat, aus der Spiel- in die Ernstsituation zu wechseln. Es könnte sein, dass sie diese Rolle gezielt angestrebt hat, um eine Rechnung mit der anderen Teilnehmerin zu begleichen. Genauso wahrscheinlich ist, dass eine wiederholt erlebte Diskriminierungserfahrung als Frau mit Migrationshintergrund hier zufällig ein Ventil findet, und ein lange gewachsener Groll eher zufällig in dieser Situation explodiert. Auch bei der zweiten Akteurin „Tochter“, die die Provokation auslöst, gibt es keine Hinweise, ob ihre Äußerung eine gezielte Provokation war und sie den Konflikt vorsätzlich herbeigeführt hat. Auch das genaue Gegenteil könnte der Fall sein: Sie weiß um die Diskriminierungserfahrungen und will sie bewusst thematisieren, um auch die Lerngruppe für diese Problematik zu sensibilisieren.

Auch bei der Lerngruppe sind wir im Ungewissen. Ist die Mehrheit froh, dass ein schon länger vorhandener Konflikt endlich öffentlich wird, oder sieht sie den Konflikt eher als persönliches Problem der beiden Betroffenen? Will die Gruppe, dass der Konflikt bearbeitet wird oder will sie damit in Ruhe gelassen werden? Wir wissen es nicht; und vor allem Frau Kant weiß es auch nicht. Sie muss also intervenieren, obwohl sie nicht über das für eine adäquate Intervention notwendige Hintergrundwissen verfügt.

Mögliche Vorgehensweisen in der Situation

  1. Frau Kant ist so überrascht worden von der Situation, dass sie das tut, was schnell zu einer Auflösung des Konflikts führt. Sie bricht das Rollenspiel ab und bittet die beiden Akteurinnen, ihre persönlichen Konflikte außerhalb des Unterrichts auszutragen und nicht unnötig das Lernen zu behindern und die Gruppe zu belasten. Das kann angemessen sein, wenn es tatsächlich nur ein Problem zwischen den beiden ist. Hat die eine Akteurin aber das ausgesprochen, was auch die Mehrheit der Gruppe über die angesprochene Akteurin denkt, so wird Frau Kant zukünftig einen schweren Stand in der Gruppe haben. Der Vorwurf, Konflikte nicht ernst zu nehmen oder mit Konflikten nicht umgehen zu können, konfliktunfähig und übermäßig harmoniebedürftig zu sein, kann – ausgesprochen oder implizit – den späteren Unterricht belasten.
  2. Frau Kant kann sich auch darauf beschränken, das Rollenspiel einfach abzubrechen und zum Unterrichtsstoff überzugehen. Damit erweckt sie bei den Akteuren und der Gruppe jedoch möglicherweise den Eindruck, sich nicht für das zu interessieren, was die Gruppe bewegt und was natürlich auch auf das Lernen einwirkt. Die für eine pädagogische Persönlichkeit unabdingbare Kompetenz der Authentizität und die der Empathie würde ihr von der Gruppe mehrheitlich abgesprochen, und das aus nachvollziehbaren Gründen.
  3. Frau Kant erinnert sich an eine Kernbotschaft der Themenzentrierten Interaktion: „Störungen haben Vorrang“ und macht den Konflikt zum Thema.
  4. Frau Kant kann und sollte sich auf das mühsame Geschäft der Konfliktbearbeitung einlassen und in eine Phase der Metakommunikation mit den beiden Akteurinnen und der Gruppe eintreten. 

Herleitung und Begründung der Vorgehensweisen

Frau Kant weiß aus Erfahrung, dass das Negieren oder Tabuisieren von Konflikten in der Lerngruppe möglicherweise zwar kurzfristig zur Entspannung führen kann, auf mittlere Sicht führen jedoch unbearbeitete Konflikte in den Gruppen eher dazu, dass sich ihr Konfliktpotenzial erweitert und eine verspätete pädagogische Intervention umso mühsamer und aufwändiger wird. Deswegen scheint ihr Vorhaben, den Konflikt systematisch zu bearbeiten (Vorgehensweise 4), die angemessene Reaktion zu sein. Aus dem Unterrichtsstoff auszusteigen und in eine Metakommunikation über den Konflikt einzusteigen wird erleichtert, wenn die Lerngruppe bestimmte Gesprächsregeln kennt bzw. zu Beginn der Metakommunikation auf bestimmte Gesprächsregeln verpflichtet wird. 

Frau Kant achtet darauf, dass die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Ursachen des Konflikts auf Flipchart oder Metaplankarten festgehalten werden. Ziel der Metakommunikation ist es, Verständnis für die Position der anderen zu entwickeln und vor allem gemeinsam zu reflektieren, wie solche Konflikte zukünftig bereits im Vorfeld thematisiert werden können. Die Lernenden sollen auch dafür sensibilisiert werden, Kritik an einem bestimmten Verhalten einer Person zu üben und nicht die Person als solche zu kritisieren. Viele Konflikte erhalten dadurch eine unnötige Schärfe, weil zwischen Sache und Person nicht getrennt wird.

CC BY SA 3.0 by Rosemarie Klein und Gerhard Reutter für wb-web

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