Erfahrungsbericht

„Life Balance“ hilft Langzeitarbeitslosen

Ein großer Teil der Langzeitarbeitslosen ist schon sehr lange arbeitslos und war zum Teil noch nie wirklich ins Arbeitsleben integriert. Das Projekt „Life Balance“ der sci:moers gGmbH führt sie durch eine Kombination von Sport, gesunder Ernährung und Aktivierung an den Arbeitsmarkt heran. Schlüsselbegriffe, die den Erfolg des Projekts erklären, sind Stärkung des Selbstbewusstseins, Gruppenarbeit und Aktivierung.

Stapel aus Steinen am Strand

Steine (Bild: PublicDomainPictures / pixabay.com, CC0)

Die Projektleiterin Iris Poljak (Friseurmeisterin) wäre schon zufrieden, wenn sie ein oder zwei ihrer Teilnehmenden auf den Weg in den Beruf bringen könnte. Ihre Erfolge sind aber viel größer. Im folgenden Interview gewährt sie einen Einblick in ihr Erfolgsrezept.

wb-web: In welchem Kontext arbeiten Sie mit Geringqualifizierten und was sind die Ziele, die sie dabei erreichen wollen?

Iris Poljak: Das Projekt „Life Balance“ wird beim sci:moers im Rahmen von Aktivierungshilfen (§ 16 SGB II) durchgeführt. Die sechsmonatige Maßnahme dient der Feststellung und Beseitigung von Vermittlungshemmnissen sowie der Heranführung an den Arbeitsmarkt. Sie ist speziell für Langzeitarbeitslose gedacht, die schon mehrere Jahre nicht mehr gearbeitet haben und bei denen oft mehrere Vermittlungshemmnisse vorliegen. Es werden insbesondere gesundheitliche Einschränkungen bearbeitet, die aus Bewegungsmangel und falscher Ernährung resultieren. Die Stärkung des Selbstwertgefühls und die Herausarbeitung eines realistischen Selbstbildes gehören zu den wichtigsten Zielen.

Wir haben hier im vierten Durchgang eine gemischte Gruppe von 20 Teilnehmenden zwischen 18 und 60 Jahren, Geringqualifizierte, wie auch Menschen mit Berufsausbildung, die aber viele Jahre nicht mehr in diesem Beruf gearbeitet haben. Jetzt geht es darum, die Teilnehmenden zu einer arbeitsfähigen Gruppe zu formen.

Die meisten Teilnehmenden sind Menschen, die schon eine starke soziale Verarmung erlitten haben, kaum noch Kontakte haben, sich vielleicht auch schämen, ob es vielleicht das Übergewicht ist, oder eben der Hartz-IV-Status oder die Qualifizierung. Es geht daher im Programm auch darum, bei diesen Personen ein Bewusstsein für die eigenen Probleme zu erzeugen und in ihnen die Motivation zu wecken, an sich zu arbeiten. Beispielsweise haben viele Teilnehmende Probleme mit dem Schreiben. Sie wollen nicht schreiben, weil sie es nicht richtig können sowie viele Rechtschreib- und Grammatikfehler machen. Diese Menschen müssen ihre Hemmschwelle verlieren. Sie müssen lernen, sich mit ihren Problemen auseinanderzusetzen und an ihnen zu arbeiten. Sich dafür zu öffnen ist schon recht schwierig, aber es kann gelingen. Heute ist zum Beispiel ein junger Mann, der damit ein Problem hat, aus sich heraus gegangen und hat die anderen gefragt: „Wie schreibt man das denn?“ Das hätte er vor drei Monaten gar nicht getan.

Zentral im Programm von Life Balance ist „Fitness und Ernährung.“ Es zielt darauf, dass die Teilnehmenden wieder leistungsaktiv werden und Bereitschaft entwickeln, sich überhaupt wieder in das Arbeitsleben zu integrieren. Das ist schließlich die Basis für die Integration in Arbeit.

wb-web: Welche Ziele für die Einzelnen werden verfolgt?

Iris Poljak: Es handelt sich um eine Maßnahme zur Aktivierung, um wieder einen ersten Schritt in Richtung Arbeitsmarkt zu machen. Viele Teilnehmende haben bis zu 17 Jahren nicht mehr gearbeitet, auch als Folge psychischer oder körperlicher Erkrankungen. Das Ziel ist, an sich zu arbeiten, um sich nicht aufzugeben. Das Selbstwertgefühl soll wieder aufgebaut werden, also das Gefühl „Ich bin nicht irgendjemand“ sondern: „Ich bin wer.“ Wenn ich ein oder zwei Menschen auf den Weg bringen kann, dann habe ich viel geschafft.

Wir erreichen bei vielen, dass sie sich auf den Weg machen und gewillt sind, wieder in den Arbeitsmarkt zu kommen. In Zusammenarbeit mit dem Jobcenter bemühen wir uns um nahtlose Anschlussperspektiven. In unserem Abschlussbericht geben wir unsere Empfehlungen und dokumentieren die Ergebnisse der Abschlussgespräche zu den Fragen „Was hat mir die Maßnahme gebracht? Welche Ziele werde ich weiter verfolgen?“

Viele sind nach der Maßnahme wieder in Arbeit gekommen oder sind direkt im Anschluss in berufliche Qualifizierungsprogramme eingemündet. Einer ist im Sicherheitsdienst gelandet, der andere als LKW-Fahrer. Manche brechen ab, aber zumindest haben sie ihren Weg versucht zu gehen. Manche bekommen auch den Ansporn, sich weiter therapieren zu lassen oder in weitere Maßnahmen zu kommen.

Eine Kundin hat im Erstgespräch gesagt, dass das ihre letzte Maßnahme ist, nachdem sie schon viele Jahre in Deutschland lebt, ohne eine reelle Chance auf einen Arbeitsplatz. Im Aufnahmegespräch stellte sich heraus, dass sie fünf Sprachen beherrscht: Englisch, Arabisch, Pakistanisch, Deutsch und Türkisch. Im Moment führt sie gerade für die anderen Frauen im Kurs einen Schminkkurs durch. Sie ist gelernte Visagistin. Sie hat von mir Arbeitsmaterialien bekommen und Unterlagen, wie man anleitet. Diese Dame hat den Deutschtest gemacht und strebt im Anschluss eine weitere Fortbildung zur Betreuungspädagogin an, um endlich einen Einstieg in die Berufstätigkeit zu bekommen.

wb-web: Wie schaffen Sie es, Menschen mit so unterschiedlichen Hintergründen und Voraussetzungen zu einem Team zu formen?

Iris Poljak: Die Gemeinsamkeiten, bezogen auf die Integration in den Arbeitsmarkt, beginnen bei den Einzelnen. Das Team verbindet an sich, dass jeder ein Problem hat, aber jeder hat ein anderes Problem. Die Teilnehmenden erkennen, dass alle in der Gruppe ein Problem haben, aber auch, dass man daran arbeiten kann. So arbeitet jeder für sich an seinem Problem, unterstützt durch die Gruppe. Jeder wird auf die Lösung seines Problems vorbereitet. Dazu gibt es individuelle Leitfäden, welche das Problem in kleinen oder großen Schritten auflösen. Für die Leitfäden wird eine Analyse erstellt: Wo stehe ich? Was mache ich? Wie weit bin ich gekommen? Wo möchte ich hin? Wie komme ich dahin?

Wir erstellen vor der Maßnahme zudem eine Zielvereinbarung: Wo möchte ich hin und was möchte ich mit dieser Maßnahme erreichen? Was bringt mir dieses Programm? Was bringt mir Ernährung? Was bringt mir Sport? Was bringt mir Bewerbungstraining? Was hat das alles miteinander gemeinsam? Wir sind ein halbes Jahr zusammen, d.h. wir haben ein halbes Jahr hier intensives Bewerbungstraining, ein halbes Jahr Sport und ein halbes Jahr reden wir hier über unseren Körper und über uns.

Der Gruppenzusammenhalt entwickelt sich auch durch gemeinsame Arbeiten wie z.B. das gemeinsame Kochen im Rahmen des Projektes Gesunde Küche. Das Kochen kennt man von zu Hause, man ist dabei frei und ungezwungen. Für das gemeinsame Kochen in der Maßnahme im Rahmen des Projektes Gesunde Küche wird ein Kochplan erstellt. Es wird erstmal analysiert, was möchte man essen, was möchte man kochen? Dementsprechend wird dann ein Menüplan erstellt. Das Menü muss natürlich auch finanziert werden, deshalb wird auch ein Finanzplan erstellt. Es muss eingekauft werden. Daraus ergeben sich verschiedene Anlässe für die Einteilung von Gruppen.

Alles wird gemeinsam abgesprochen: Die ganze Planung von A – Z, bis hin zum Abwasch wird ganz genau durchstrukturiert, wer was wann macht. Ob es dann auch so abläuft, das sei dahingestellt. Aber zunächst bekommen alle erstmal einen Arbeitsauftrag. So beginnt eigentlich schon Teambildung. Denn der gemeinsame Arbeitsprozess erfordert Aufteilung, Planung, Abstimmung und Nutzung der verschiedenen Kompetenzen und Erfahrungen der Gruppenmitglieder.

wb-web: Wie können Sie die individuellen Kompetenzen und Entwicklungspotenziale konstruktiv in den Gruppenprozess integrieren?

Iris Poljak: In den Aufnahmegesprächen ergibt sich ein erster Eindruck über die vorhandenen Kompetenzen. Es werden die Daten erfasst und Informationen über den Gesundheitszustand, die Lebenssituation und ihren bisherigen Werdegang gesammelt, zum Beispiel berufliche Praktika oder bisherige Maßnahmen.

Anschließend werden die Ziele definiert, welche die Teilnehmenden in der Maßnahme erreichen wollen. Wir schauen dann, „Wie komme ich an mein Ziel heran?“ „Wer kann mir dabei helfen?“ „Sind die Ziele realistisch?“

wb-web: Wie entwickelt sich der Gruppenprozess?

Iris Poljak: In der Gruppe sucht sich erstmal jeder einen Ansprechpartner als Vertrauensperson. Daraus ergibt sich schon recht früh eine Gruppenbildung. Wir beobachten: Ist die Gruppe gut? Ist sie förderlich? Wir versuchen dann, das vorsichtig zu steuern, um diese Gruppe bei Bedarf so umzustrukturieren, dass die Mitglieder gut miteinander arbeiten können. Wir berücksichtigen dabei auch die Wünsche der Teilnehmenden, sofern diese zum Ziel führen. Zum Beispiel war eine Gruppe ziemlich schwach. Da hat nur ein junger Mann gearbeitet und die anderen meinten sich an ihn anhängen zu können. Nachdem wir die Gruppe aufgeteilt haben, funktionierte die Zusammenarbeit. Derjenige, der gut gearbeitet hat, bekommt natürlich auch die Bestätigung dafür.

Im Gruppenprozess trägt der Sport zu einer starken Teambildung bei. Wir bieten Herz-Kreislauf-Training und Kraftsport in einem Fitnessstudio an. Dort wird dann gemeinsam der Sport im Zirkeltraining ausgeübt. Danach haben wir auch eine Entspannungsphase von ca. 15 bis 20 Minuten. Der eine schafft das, der andere nicht direkt, das ist für jeden erstmal in Ordnung. Durch das gemeinsame Üben wird die individuelle körperliche Leistungsfähigkeit Stück für Stück ausgeweitet. Der Sport schafft ein starkes Bewusstsein für das Zusammensein. So kommt die Teambildung immer mehr in Schwung. Dieser Prozess der ersten Teambildung dauert etwa drei Wochen.

Der Sport ist in dieser Phase der gemeinsame Nenner für alle. Er zeigt, dass z.B. ein junger Mensch auch mal an seine Grenzen kommt, auch wenn der denkt, neben den Älteren und Schwächeren vielleicht besser da zu stehen. Es stellt sich ganz schnell heraus, dass alle die gleichen Ansatzpunkte haben, denn nur wer wirklich sportlich aktiv ist, kann auch Leistung zeigen. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen tauschen sich die Teilnehmenden recht früh miteinander aus. Es wird schnell eine Vertrauensbasis untereinander aufgebaut. Über das Projekt hinweg nehmen wir uns die Freiheit, unser Konzept flexibel an die Bedürfnisse der Teilnehmenden anzupassen. Wenn unser Konzept straffer wäre, würde hier manchmal die Motivation der Teilnehmenden stark abflauen. Wir müssen immer ganz individuell arbeiten, um am Ende erfolgreich zu sein. Wir haben zwar unsere Lerninhalte und Lernaufgaben, aber wir haben schon mal Situationen, wo ich sage: „Nein, heute geht kein Bewerbungstraining, wir müssen was anderes machen, um die Motivation wieder aufzubauen.“

wb-web: Wie gestalten Sie die Projektarbeit im Rahmen dieser Maßnahme?

Iris Poljak: Wir arbeiten seit einigen Wochen in dem Thema „100 Jahre Ernährungs-, Sport- und Arbeitsmarktentwicklung“. Das Thema leitet sich aus der Zielsetzung der Gesamtmaßnahme „Life Balance“ ab, nämlich körperlich und gesundheitlich fit zu werden und den Einstieg in Arbeit oder berufliche Qualifizierung zu schaffen. Es gibt drei Gruppen: Ernährung, Sport und Arbeitsmarkt. Innerhalb dieser Gruppe erhält jedes Mitglied ein eigenes Teilthema, zu dem ein Referat zu erarbeiten ist. Beispiele für solche Teilaufgaben sind die Entwicklung der Arbeitslosigkeit anhand von Statistiken, die Aufarbeitung der eigenen Arbeitsbiografie oder der eigenen Krankengeschichte. Ein anderer hat zum Thema Geschichte der Gewerkschaften und deren Einfluss auf den Arbeitsmarkt gearbeitet. Auch in der Gruppe Ernährung werden geschichtliche Entwicklungen bearbeitet, z.B. „Was war vor 100 Jahren an Diäten aktuell?“

Die Aufgaben werden dem jeweiligen Leistungsvermögen angepasst. Viele aus der Gruppe können aufgrund ihrer Schulbildung solche anspruchsvollen Arbeiten wie Referate und Präsentationen durchaus leisten. Für sie ist es auch förderlich, dass diese Kompetenzen wieder aktiviert werden. Es gibt auch einige, die gar keinen Schulabschluss haben oder früher die Förderschule besucht haben. Sie bearbeiten dann leichter zu bewältigende Teilaufgaben. Sie suchen zum Beispiel Bilder zu einem Thema und gestalten dazu ein Plakat. So hat jedes Gruppenmitglied eine eigene Aufgabe und trägt seinen Teil in der Gruppenarbeit bei.

wb-web: Ist das nicht ein zu anspruchsvolles Thema? Sie arbeiten mit Geringqualifizierten.

Iris Poljak: Wir achten bewusst darauf, dass jedes Gruppenmitglied seine Grenzen erfahren und darüber hinausgehen kann. Das geschieht im Sport und in der Ernährung genauso wie bei der Bearbeitung inhaltlicher Themen. Es handelt sich um erwachsene Menschen. Sie möchten natürlich auch als vollwertig angesehen werden. Jeder Mensch muss auch seine Grenze kennen, über die er dann möglicherweise hinausgehen kann. Das ist ja wie im Sport. Wenn sie heute 10 Kilo heben können, sollte es ein Anreiz sein, dass sie in drei Wochen 20 Kilo heben können.

wb-web: Wie entwickeln sich die Gruppenstrukturen?

Iris Poljak: Es entwickelt sich in den Gruppen schnell jemand, der die Gruppe anführt, dann welche, die mitarbeiten. Es gibt auch immer welche, die zwar dem Team angehören, aber eher abwarten. Aus dieser Gruppenbildung kristallisieren sich auch wieder Fähigkeiten und Typen heraus, zum Beispiel der Dominante, der Mitläufer und der Zurückhaltende.

Wenn sich solche Strukturen verfestigen und die Arbeit des Teams hemmen, versuche ich zu erreichen, dass sich die überdominante Person auch mal ein wenig zurückhält oder sich ganz rausnimmt, um die Führungsrolle auch mal denjenigen zu überlassen, die bisher zurückhaltender waren.

Jeden Tag gibt es zudem eine Feedbackrunde, egal ob positiv oder negativ. Dabei darf kritisiert werden, solange es konstruktiv ist, damit nicht die persönliche Ebene angegriffen wird. Durch das Feedback erhalten wir Informationen, wie die Gruppenstrukturen von den Einzelnen wahrgenommen werden und können dadurch gegensteuern. Für das Gelingen des gesamten Projekts gilt: Es muss der Anreiz da sein mitzumachen und eine gewisse Ernsthaftigkeit gegeben sein. Am Anfang stellt sich das sich noch nicht so raus, aber je mehr es im Projekt in die Tiefe geht, desto mehr kennen die Leute ihre Baustellen, die sie abbauen müssen. Und genau das ist es: Baustellen abbauen und nicht noch eine neue eröffnen.

CC BY-SA 3.0 DE by Christoph Eckhardt für wb-web



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