Was muss ich als Lehrender in der Erwachsenenbildung bei dem Umstieg auf Online-Angebote berücksichtigen? Der digitale Raum ist für die Bildungsarbeit ein eigenes Habitat mit differenten Regeln und Gesetzmäßigkeiten im Vergleich zu raum-zeitlich konstituierten traditionellen Lernwelten. Eine ethische Perspektive auf Erwachsenenbildung kann in der Digitalität Orientierung bieten.
Der allgegenwärtig pandemiebedingte Druck für Lehrende und Organisationen im Feld der Erwachsenenbildung, neue digitale Wege zu Ihren Teilnehmenden beschreiten zu müssen, stellt viele Akteure vor neue Herausforderungen. Verbunden mit einer nun übergreifend notwendig werdenden medienbezogenen Wissenskompetenz rücken Fragen der (pädagogisch) richtigen und guten Nutzung der unzähligen digitalen Lern-, Kommunikations- und Kollaborationstools ins Zentrum. Ein verlässlicher Orientierungspunkt in dieser normativen Frage bietet die Ethik als kontextübergreifender Begleiter der erwachsenenpädagogischen Praxis und Forschung. Erwachsenenbildung sei schließlich unausweichlich eine ethisch-moralische Praxis (vgl. Fuhr 2011, S. 516).
Gegenstandsbereiche ethischer Reflexion
In seinem Beitrag zum Begriff der Ethik im Wörterbuch der Erwachsenenbildung unterscheidet Erpenbeck die ethische Rechtfertigung der Inhalte, des Handelns der Akteure und die Ziele der Erwachsenenbildung als Gegenstandsbereiche ethischer Reflexion in der Erwachsenenbildung (vgl. Erpenbeck 2010, S. 95). Im Folgenden möchte ich versuchen, entlang dieser Bereiche digitalisierungsspezifische An- und Herausforderungen einer ethisch reflektierten erwachsenenpädagogischen Praxis darzustellen.
Der erstgenannte Bereich ist als Leerform kontextunabhängig an jedwedes erwachsenenpädagogische Intervenieren anzulegen. In Bezug auf die Digitalität gewinnt die Beschäftigung mit moralisch vertretbaren Bildungsinhalten besonders im Bereich der marktkontextualisierten Weiterbildung an Relevanz. Durch den digitalen Vertriebsweg ist es einigen selbsternannten Coaches, Trainern und Beratern gelungen, einmalig produzierte Lernmodule zu horrenden Preisen auf den Markt zu spülen. Verbunden mit haltlosen Versprechungen von dramatisch ansteigenden Monatsgehältern durch z.B. webbasierte Network-Marketing-Strategien, die sich bei näherer Betrachtung schnell als Pyramidensysteme herausstellen. Solche Inhalte auf wb-web als unethisch zu deklarieren, käme einer Beleidigung der Leserschaft gleich. Es geht mir vielmehr darum deutlich zu machen, mit welchen Weiterbildungsangeboten potenzielle Lernende auf sozialen Medien und Videoplattformen konfrontiert werden. Solche unseriösen Anbieter werben mittels personalisiertem Marketing gezielt benachteiligte Zielgruppen an. Was bedeutet das für die Inhalte digitaler Weiterbildungsangebote von professionellen Erwachsenenbildner/innen? Zunächst sollte man besonders im Feld der marktorientierten Weiterbildung auf größtmögliche Transparenz in Bezug auf Preise, Inhalte und Ziele der Angebote achten. Auch bei der Transformation von Präsenzkursen beispielsweise aus der Persönlichkeitsbildung in ein digitales Gewand sollte der Ankündigungstext nicht via STRG_C und STRG_V übertragen werden, sondern zuvor seinen Transparenzgehalt in den genannten Kategorien gegengeprüft werden.
Kommunikation und Empathie
Während sich Ärztinnen und Ärzte seit über 2000 Jahren dem Hippokratischen Eid verpflichten und sich damit auch hinter klaren ethisch-moralischen Grundsetzen ihrer Zunft positionieren, fehlt eine solche formalisierte ethische Charta im höchst heterogen, offenen, gering professionalisierten Tätigkeitsfeld der Erwachsenenbildung (vgl. Bernhardsson-Laros 2020) , in dem das Personal über sehr unterschiedliche berufliche Abschlüsse und Erfahrungen verfügt (vgl. Schrader 2014, S. 19; vgl. Martin/Langemeyer 2014). Dennoch bietet das didaktische Prinzip der Teilnehmendenorientierung wichtige Anhaltspunkte für ethisch reflektiertes Handeln, die auch auf Spezifitäten digitaler Erwachsenenbildung übertragbar sind. Das eigene Handeln in digitalen Kontexten an den Wünschen, Bedarfen und Voraussetzungen der Teilnehmenden auszurichten, verlangt ein mehr an kommunikativen Einsatz als in einer Präsenzsituation. In Live-Online-Seminaren ist es nicht ratsam, sich bei der Einschätzung der Bedürfnisse aufgrund dem Mangel an verwertbaren Indizien auf die eigene professionelle Intention zu verlassen. Digitales Lernen lebt von wechselseitiger Kommunikation, Rückkopplung und Versicherung als Kompensation nonverbaler Signale in raum-zeitlich gerahmten Settings. Beziehungsarbeit und Empathie sind demnach Schlüsselkompetenzen, auf die beim Umstieg auf digitale Lernangebote zu achten ist. Die Fähigkeit sich in die Lage der Teilnehmenden hineinzuversetzen ist gegenwärtig besonders wichtig, da einige Lernende nun unfreiwillig am digitalen Fernlernen partizipieren. Die Wahl eines Präsenzangebots war eine bewusste Entscheidung der Teilnehmenden. Möglicherweise weil mit dem raum-zeitlich gerahmte Lernen eine höhere Verbindlichkeit assoziiert wurde, weil die Seminarzeiten mit den eigenen Arbeitszeit gut vereinbar waren oder die selbst wahrgenommene Medienkompetenz gering ist. In diesen Fällen ist es wichtig, dass Lehrende besonders sensibel mit eventuellen Ängsten der Lernenden umgehen, die technischen Voraussetzungen so gering wie möglich halten sowie die formale und didaktische Rahmung ihres Angebots flexibel nach den Teilnehmenden ausrichten.
Verhältnismäßigkeit
Da sich die Situation gezwungener Umwandlung zwischen dem Schulwesen und der Erwachsenenbildung ähnelt, ist ein Blick auf ethisch-didaktische Diskurse in benachbarten Bereichen des Bildungswesens fruchtbar. So haben Krommer, Wampfler und Klee für das Schulministerium NRW didaktische Hinweise für Lehrer/innen und Seminarausbilder/innen ausgearbeitet, die aus meiner Sicht auch als Orientierung für Erwachsenenbildner/innen dienen können. Exemplarisch hervorzuheben sind besonders ihre Leitsätze „So viel Empathie und Beziehungsarbeit wie möglich, so viele Tools und Apps wie nötig.“, „So viel einfache Technik wie möglich, so viel neue Technik wie nötig.“ und „So viel Vertrauen und Freiheit wie möglich, so viel Kontrolle und Struktur wie nötig.“ (Krommer/Wampfler/Klee 2020). Letzterer Leitsatz spielt auf einen die ethische Anforderung an Erwachsenenbildner/innen an, größtmögliche Schutzräume für eine von Vertraulichkeit geprägten Lehr-/Lernsituation zu schaffen.
Schutz und Vertraulichkeit
Diese Verantwortung spielt nicht nur bei der Auswahl geschützter und möglichst sicherer Tools eine Rolle, sondern auch in der direkten Interaktion mit den Lernenden. Exemplarisch möchte ich hier auf eine Möglichkeit hinweisen, die das aktuell besonders in der Hochschullehre beliebte Videokommunikationstool „Zoom“ den Lehrenden bietet. Durch die automatische Erstellung sogenannter „Breakout Groups“ ist es möglich die Teilnehmenden in geschützte Kleingruppenräume einzuteilen. Lehrende haben aber die Möglichkeit unangekündigt diese Gruppenräume zu betreten und so die Gespräche weitestgehend unbemerkt mitzuverfolgen. Anhand dieses Beispiels lässt sich gut erkennen, dass durch die Umstellung auf Lernumgebungen im digitalen Raum auch neue Möglichkeiten der Kontrolle entstehen. Aus ethischer Perspektive ist sich vor der Nutzung solcher Möglichkeiten immer die Frage nach der Notwendigkeit zu stellen und die Freiwilligkeit der Erwachsenenbildung zu achten. Freiwilligkeit und Kontrolle stehen sich hierbei diametral gegenüber.
Fazit
Zusammenfassend zeigt sich, dass sich aus den historisch herausgebildeten Grundpfeilern der Teilnehmendenorientierung, der Freiwilligkeit und der Offenheit von Erwachsenenbildung Ableitungen für die Digitalisierung von Weiterbildungsangeboten ergeben können. Dennoch ist es ebenso wichtig zu akzeptieren, dass dem Digitalen eine völlig neue raumzeitliche Logik unterliegt. Die multiplen Entgrenzungen der Digitalität verlangt allen Akteuren Kompromissbereitschaft und Pragmatismus ab. Bei der Transformation von traditionellen in webbasierte Angebote ist es daher auch notwendig nicht binär zwischen guten und schlechten Lösungen zu unterscheiden, sondern immer in Spektren zu denken: So viel Datenschutz und Sicherheit wie möglich, so wenig (externe) Kontrolle wie nötig. So viel bedürfnis- und ressourcenorientierte Kommunikation wie möglich, so viel Lernplattformen und Tools wie nötig. So wenige Teilnahmevoraussetzungen wie möglich, so viel einfache Technik wie möglich. Was für Schüler/innen gilt ist auch für Erwachsene wichtig, um der Forderung nach „Erwachsenenbildung für alle“ auch im Digitalen gerecht werden zu können.
Literatur:
Bernhardsson-Laros, N. (2020): Moralische Probleme und ethische Fragen von Lehrenden der Erwachsenen- und Weiterbildung – Ein Modell für die Forschung zur erwachsenenpädagogischen Bereichsethik. In: ZfW 43 (1). Wiesbaden: Springer VS, S. 13-30.
Erpenbeck, J. (2010): Ethik. In: Arnold, R.; Nolda, S.; Nuissl, E. (Hg.): Wörterbuch der Erwachsenenbildung. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, S. 95–96.
Fuhr, T. (2011): Ethik der Erwachsenenbildung/ Weiterbildung. In: Fuhr, T.; Gonnon, P.; Hof, C. (Hg.): Handbuch der Erziehungswissenschaft. 4. Erwachsenenbildung – Weiterbildung. Paderborn u. a.: Schöningh, S. 505-518.
Krommer, A.; Wampfler, P.; Klee, W. (2020): Didaktische Hinweise für Lehrerinnen und Lehrer und Seminarausbilderinnen und Seminarausbilder. URL: https://www.schulministerium.nrw.de/docs/Recht/Schulgesundheitsrecht/Infektionsschutz/300-Coronavirus/Coronavirus_Impulse_Distanzlernen/index.html (abgerufen am 02.05.2020).
Martin, A.; Langemeyer, I. (2014): Demografie, sozioökonomischer Status und Stand der Professionalisierung – das Personal in der Weiterbildung im Vergleich. In: Deutsches Institut für Erwachsenenbildung (Hg.): Trends der Weiterbildung. DIE-Trendanalyse 2014. Bielefeld: wbv, S. 43–67.
Schrader, J. (2014): Im Fokus. Ethik erwachsenenpädagogischen Handelns – alltäglich gefordert, selten bedacht. In: REPORT 37 (1). Bielefeld: wbv, S. 17-28.
CC BY-SA 3.0 by Tim Vetter für wb-web.