Erfahrungsbericht

Neue Impulse für die Alphabetisierung und Grundbildung

Logo des Kompetenzentrum GrundbildungsPFADE

Zehn regionale Projekte entwickeln seit Herbst 2024 neue Wege, um Menschen mit Grundbildungsbedarf besser zu erreichen – praxisnah, vernetzt und alltagsorientiert. Begleitet werden sie vom Kompetenzzentrum GrundbildungsPFADE. Sabine Schwarz vom Lernende Region – Netzwerk Köln e.V. betont, dass Bildungsangebote dort ansetzen, wo Menschen stehen – im Beruf, im Alltag, in der Familie. Ziel ist ein dauerhaft tragfähiges System, das Beratung, Bildung und Teilhabe wirksam verbindet.

Im Rahmen der BMBF-Förderrichtlinie „Grundbildungspfade“ haben zehn regionale Projekte zwischen August und Oktober 2024 ihre Arbeit aufgenommen, mit dem Ziel, innovative Grundbildungspfade zu entwickeln und die Strukturen der Alphabetisierung und Grundbildung auf regionaler Ebene auszubauen. Begleitet und unterstützt werden die Projekte vom Kompetenzzentrum GrundbildungsPFADE, bestehend aus dem Deutschen Institut für Erwachsenenbildung – Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen e.V. (DIE), Lernende Region – Netzwerk Köln e.V. (LRNK) und dem Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. (BVAG). wb-web hat Sabine Schwarz, Projektleiterin bei Lernende Region Netzwerk Köln e.V., interviewt.

wb-web: Die Ansprache und langfristige Förderung von Menschen mit Grundbildungsbedarf ist ein wichtiges Anliegen der AlphaDekade. Warum ist es so schwierig, Menschen mit Grundbildungsbedarf zu erreichen und langfristig zu motivieren?

Sabine Schwarz: In den letzten Jahren haben viele Projekte und Akteure gezeigt, dass die Ansprache gelingen kann – vor allem dann, wenn sie nah an den Lebenswelten der Menschen stattfindet. Erfolgreich sind vor allem kooperative, gut vernetzte und aufsuchende Strategien. Das bedeutet: Die Bildungsangebote finden an Orten statt, an denen sich die Zielgruppen ohnehin aufhalten – zum Beispiel am Arbeitsplatz oder in der Kita.

Wichtig ist auch, dass die Angebote für die Teilnehmenden einen erkennbaren Nutzen haben. Menschen mit Grundbildungsbedarf nehmen eher teil, wenn sie merken, dass ihnen ein Bildungsangebot im Alltag, im Beruf oder im Familienleben weiterhilft.       

In der Studie  Move  der  Stiftung Lesen  wurde nochmals deutlich aufgezeigt, dass es nicht ausreicht, aus einer bildungsbürgerlichen Perspektive heraus Angebote zu entwickeln, die den potenziellen Teilnehmenden mehr Teilhabe durch Bildung versprechen. Die Kommunikationswissenschaftlerin Simone Ehmig hat in einigen Vorträgen zu dieser Studie eine eher fatalistische Sichtweise bei formal niedrig Gebildeten herausgestellt. Fatalismus und Resignation erschweren positive Perspektiven auf Bildung. Insbesondere wenn Bildung als etwas Abstraktes kommuniziert wird, schreiben formal niedrig Gebildete dieser keinen Wert an sich zu. Es wird kein Nutzen für die eigene (berufliche) Entwicklung erkannt. 

wb-web: Welche Lösungen sieht der Förderschwerpunkt „Grundbildungspfade“ hierfür vor?

Sabine Schwarz: Der Förderschwerpunkt hat überwiegend Projekte ausgewählt, die bereits gut mit regionalen Partnern vernetzt sind und die die Entwicklung und Implementierung von Grundbildungspfaden mit diesen gemeinsam angehen wollen. Diese Projekte bringen oft viel Erfahrung mit und nutzen bewährte Methoden und Materialien, um Menschen mit Grundbildungsbedarf zu unterstützen. Der Förderschwerpunkt gibt keine fertigen Lösungen vor. Stattdessen sollen die Projekte Ideen erproben, wie sich vor Ort langfristig gute Strukturen aufbauen lassen. Ziel ist auch, dass sich wichtige lokale Partner in Zukunft selbst stärker engagieren und eigene Ressourcen einbringen. Ein weiteres Ziel ist, dass Beratung, Bildung und berufliche Entwicklung besser zusammenpassen, einfacher zugänglich und flexibler werden. So sollen Hürden abgebaut und Bildungswege für Menschen mit Grundbildungsbedarf besser nutzbar gemacht werden. Dabei geht es auch immer darum, Antworten auf die Frage zu finden, wie Angebote und Fördermaßnahmen von Bund und Ländern in einen kohärenten Gesamtzusammenhang gebracht werden können.

wb-web: Es ist das erste Mal, dass im Bereich der Alphabetisierung und Grundbildung ein Metavorhaben gefördert wird. Welche Chancen sehen Sie darin?

Sabine Schwarz: Das Metavorhaben bietet die große Chance, aus einer übergeordneten Perspektive zu begleiten und zu analysieren, welche Lösungen und Ansätze die zehn geförderten Projekte in der Alphabetisierung und Grundbildung entwickeln. Dadurch lassen sich Zusammenhänge erkennen und Erkenntnisse ableiten, die für zukünftige Entwicklungen auch über einzelne Regionen hinausgehend wichtig sind.

Wir unterstützen die Projekte dabei mit wissenschaftlicher Begleitung und konkretem Service. Dazu gehören zum Beispiel Austauschformate, individuelle Beratung und die Förderung des regionalen Wissenstransfers. Mit Formaten wie den Werkstattgesprächen begleiten wir die Projekte auch bei der praktischen Umsetzung wirkungsorientierter Grundbildungsarbeit. Zudem bringen wir Projekte mit ähnlichen Themen zusammen, um gemeinsames Lernen zu ermöglichen.

Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Professionalisierung: Wir entwickeln Angebote für Fachkräfte und andere Stakeholder, insbesondere in der Grundbildungsberatung und Netzwerkkoordination.

Forschungsseitig analysieren wir Erfolgsbedingungen der Netzwerkarbeit sowie Strategien zur Implementierung der Grundbildungspfade. Gefragt wird auch danach, welche Faktoren Bildungsentscheidungen und Übergänge bei der Zielgruppe beeinflussen. Diese Erkenntnisse bereiten wir praxisnah auf – ergänzt durch externe Expertisen und Ergebnisse aus relevanten Forschungsfeldern, etwa der Literalitäts- und Migrationsforschung sowie der Weiterbildungs- und Arbeitsmarktforschung.

Besonders wichtig ist uns der Transfer: Die Erfahrungen und Erkenntnisse aus den Projekten sollen nicht nur dokumentiert, sondern aktiv in Praxis, Politik und Wissenschaft eingespeist werden. Das geschieht im engen Austausch mit Akteuren auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene – zum Beispiel mit Ländervertretungen, dem Deutschen Volkshochschul-Verband, Arbeit und Leben, Kammern oder weiteren Partnern der AlphaDekade.

wb-web: Und wo sehen Sie Herausforderungen in dem Projekt?

Sabine Schwarz: Eine zentrale Herausforderung liegt in der Übertragbarkeit von Erkenntnissen: Was in einer Region gut funktioniert, lässt sich nicht automatisch auf andere Regionen übertragen. Die Bedingungen vor Ort unterscheiden sich erheblich – etwa in Bezug auf Akteurs- Landschaften, Arbeitsmarktsituation, Infrastruktur, gesetzliche Rahmenbedingungen, Zuständigkeiten oder soziodemografische Merkmale der regionalen Bevölkerungsgruppen. Das Metavorhaben soll hier Empfehlungen entwickeln, wie erfolgreiche Ansätze angepasst und weitergegeben werden können. Dabei kommt es auf eine gute Balance an – zwischen dem Bedarf, Erkenntnisse zu verallgemeinern, und der Notwendigkeit, individuelle Lösungen für unterschiedliche regionale Kontexte zu ermöglichen.

wb-web: Die Grundbildungspfade richten sich an spezifische Zielgruppen. Nach welchen Kriterien wurden diese ausgewählt?

Sabine Schwarz: Die Auswahl der Zielgruppen erfolgte nicht nach festen Kriterien, sondern die Projekte haben im Rahmen ihrer Antragsstellung zunächst geschaut, welche Gruppen in ihrer Region überhaupt präsent sind – und gleichzeitig analysiert, welche Angebote für diese Menschen bereits existieren und wo Lücken bestehen. Diese Lücken sollten dann von den Projekten mit passenden Grundbildungsangeboten gefüllt werden. Das Problem an dieser Vorgehensweise ist, dass die Projekte ihre jeweiligen Zielgruppen dabei oftmals stark aus einer solchen Angebotslogik heraus beschrieben haben.

Im Förderschwerpunkt Grundbildungspfade wurden drei Leitlinien formuliert, an denen sich die Projekte bezüglich ihrer avisierten Zielgruppen und zukünftigen Angebotsentwicklungen orientieren sollten. Diese Leitlinien lauten höher, breiter und integrativer.

  • höher: Es geht auch um Menschen mit etwas höheren schriftsprachlichen Kompetenzen, die oft im Erwerbsleben stehen, aber dennoch Unterstützungsbedarf haben.
  • breiter: Grundbildung wird umfassend verstanden – sie umfasst auch digitale, soziale, kulturelle und beruflich relevante Kompetenzen.
  • integrativer: Angebote richten sich gleichermaßen an in Deutschland aufgewachsene und zugewanderte Erwachsene.

Diese breite Orientierung hat u. a. dazu geführt, dass nun auch ein breites Spektrum möglicher Zielgruppen in den Projekten adressiert wird. Dies ist auf der einen Seite im Sinne eines inklusiven Denkens und Handelns gut, auf der anderen Seite birgt es die Gefahr, dass nun eigentlich alle Menschen in irgendeiner Art und Weise Grundbildungsbedarfe aufweisen und die Inhalte von Grundbildung einen sehr breiten Kanon umfassen. Deshalb ist es notwendig, dass das Kompetenzzentrum diesbezüglich in einen intensiven Austausch mit den Projekten aber auch der Wissenschaft und anderen am Diskurs beteiligten Akteuren tritt.

wb-web: Wie darf man sich einen Grundbildungspfad in der Praxis vorstellen und wer soll ihn gehen?

Sabine Schwarz: In den geförderten Projekten werden unterschiedliche Ansätze erprobt, was genau ein „Grundbildungspfad“ sein kann. Dabei gibt es zwei miteinander verschränkte Blickrichtungen: Einerseits wird auf die Menschen selbst geschaut – also auf individuelle Bildungswege mit verschiedenen Etappen. Andererseits schaut man auf das Anbietersystem, das passende Angebote und Strukturen für Menschen mit Grundbildungsbedarf bereitstellen soll. Ziel ist es, dass beides gut zusammenpasst: Die Bedarfe der Zielgruppen einerseits – und die Beratungs-, Unterstützungs- und Bildungsangebote andererseits. Grundbildungspfade sollen dabei kein loses Nebeneinander einzelner Kurse sein, sondern ein durchlässiges System bilden. Es geht darum, Brüche im Bildungsweg zu vermeiden und immer wieder neue Anschlussmöglichkeiten zu schaffen – egal, wo jemand gerade steht.

In der Projektpraxis lassen sich dabei bisher zwei unterschiedliche Vorgehensweisen beobachten. Ein Teil der Projekte arbeitet sehr niedrigschwellig und entwickelt Wege, wie Menschen individuell beraten, begleitet und motiviert werden können. Der andere Teil versucht Grundbildungsanteile in bestehende Bildungsstrukturen – zum Beispiel in Ausbildungsgänge wie die Pflegefachassistenz oder in Teilqualifizierungen zu integrieren. So entstehen neue Einstiegs- und Anschlussmöglichkeiten auch für Menschen mit Grundbildungsbedarf innerhalb bestehender und bewährter formaler Bildungswege.

wb-web: Welche besonderen Vorerfahrungen und Expertise bringt LRNK im Bereich der Alphabetisierung und Grundbildung mit und was ist sein spezifischer Beitrag zum Projekt?

Sabine Schwarz: LRNK verfügt über eine langjährige und vielseitige Expertise im Bereich der Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener. Als Projektagentur hat LRNK zahlreiche Bundes- und Landesprojekte koordiniert und dabei passgenaue Bildungs- und Beratungsangebote für verschiedene Zielgruppen entwickelt – insbesondere für Erwerbslose, Beschäftigte mit Grundbildungsbedarf sowie für Bürger*innen in benachteiligten Sozialräumen. LRNK ist außerdem regelmäßig in Beiräten, Gremien und Facharbeitskreisen vertreten – etwa im Rahmen der AlphaDekade oder der Nationalen Weiterbildungsstrategie (NWS). Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Moderation und Gestaltung dialogorientierter Formate wie Workshops, Zukunftswerkstätten oder Bürger*innenbeteiligungsprozessen, eine methodische Kompetenz, die LRNK aktiv in das Metavorhaben einbringt.

wb-web: Im Rahmen des Projekts sollen auch Fortbildungsangebote für die Grundbildungsbegleitung und Netzwerkkoordination entwickelt werden. Welche Rolle spielen diese für die langfristige Förderung von Menschen mit Grundbildungsbedarf?

Sabine Schwarz: Die Erfahrungen aus den vergangenen Jahren und die Evaluationen früherer Förderphasen haben gezeigt: Es braucht qualifizierte Fachkräfte, die sich gezielt um das Thema Grundbildung kümmern – sowohl in der direkten Arbeit mit Menschen als auch auf der strukturellen Ebene. Auf der einen Seite sind das Personen, die Menschen mit Grundbildungsbedarf sensibel beraten, motivieren und begleiten können – sogenannte Grundbildungsbegleiter*innen. Auf der anderen Seite braucht es Koordinator*innen, die das Thema Grundbildung in regionalen Netzwerken voranbringen, Kooperationen auf- und ausbauen und strukturelle Lösungen mitentwickeln. Um diese beiden Profile zu stärken, entwickelt das Kompetenzzentrum entsprechende Professionalisierungsangebote. Der BVAG verantwortet dabei den Bereich der Grundbildungsbegleitung. LRNK entwickelt Fortbildungsangebote im Schwerpunkt Netzwerkkoordination.

Beide Rollen sind entscheidend, um Grundbildungsangebote langfristig und nachhaltig zu verankern – denn nur wenn es sowohl individuelle Ansprechpersonen als auch koordinierende Strukturen gibt, können Menschen mit Grundbildungsbedarf dauerhaft erreicht und unterstützt werden.

wb-web: In drei Sätzen: Was wäre ein Best-Case-Szenario nach Ablauf der Förderperiode und Abschluss des Projektes?

Sabine Schwarz: Menschen mit Grundbildungsbedarf finden passende Angebote, die an ihren Lebensrealitäten ansetzen – vom Einstieg bis zur Weiterentwicklung. Regionale Netzwerke arbeiten koordiniert und stärken Beratung, Bildung und Begleitung aus einer Hand. Grundbildung ist nicht länger projektabhängig, sondern fester Bestandteil kommunaler Bildungsplanung.

Neue Impulse für die Alphabetisierung und Grundbildung“ Sabine Schwarz im Gespräch mit wb-web (2025),  CC BY-SA 3.0 DE


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