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Wir brauchen Perspektivwechsel: Politische Erwachsenenbildung als Koproduktion

Das Bild zeigt die Seitenansicht auf den Kopf einer jungen Frau, die auf eine Bildschirmwand schaut, auf der unzählige Menschenköpfe in unterschiedlichen Situationen abgebildet sind.

Frau Dr.in Helle Becker von der Transferstelle politische Bildung fordert in diesem Blogbeitrag einen Perspektivwechsel in der politischen Erwachsenenbildung. Zielgruppen würden konstruiert und mangelnde Nachfrage fälschlicherweise als politisches Desinteresse gedeutet. Die politische Erwachsenenbildung sollte kooperativ und kollaborativ gestaltet und damit mit der und nicht für die Zielgruppe gedacht werden.

Aufforderungen, neue Zielgruppen zu „erreichen“, hört die politische Bildungsszene seit vielen Jahren. Begründet wird dies mit der Hypothese, dass Menschen, die als politikfern oder bildungsfern gelten, durch ihre Einstellungen (gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Verschwörungstheorien) und ihr Verhalten (geringe Wahlbeteiligung, populistische Bewegungen) eine Gefährdung unserer Demokratie darstellen. Das wirft Fragen auf.

Konstruierte Zielgruppen

(Ziel-)Gruppen werden konstruiert, um Unterschiede zwischen Menschen beschreibbar und operationalisierbar zu machen. Allerdings kann eine Einteilung anhand von wenigen Merkmalen zu pauschalen Urteilen und Klischees führen. Immer geht es darum, eine Gruppe gegenüber anderen abzugrenzen. Dafür legt, auch in wissenschaftlichen Kontexten, eine bestimmte Gruppe von Menschen fest, wer die Anderen sind. Die Sichtweisen der Betroffenen, auch ggf. deren Widerspruch, werden hierbei in der Regel nicht berücksichtigt. Politik, Medien und Gesellschaft schreiben diese Kategorien, v.a. als Zuschreibungen, fort.

 Besonders problematisch wird dies, wenn mit der Einteilung in Zielgruppen Menschen als deviant oder unzulänglich etikettiert werden. Da hilft auch die gute Absicht nicht – soziale Ungerechtigkeiten oder besondere Förderbedarfe erkennbar zu machen – wenn dies zu Schließungen, Segmentierung oder Stigmatisierung führt. So ist es kritisch zu sehen, wenn politische Bildung für so genannte benachteiligte Milieus gefordert wird, weil man annimmt, dass hier aufgrund von Unzufriedenheit eine größere Gefahr von Radikalisierung besteht. Dringlichkeit herstellen durch Herabsetzung könnte man dieses Schema nennen. Zu derlei defizitären Beschreibungen werden Bildungseirichtungen und -organisationen durch entsprechende Förderprogramme immer wieder gezwungen.

Tatsächlich verstellt dieser Automatismus Zugänge und Bildungsmöglichkeiten. Denn Fremdbeschreibungen geraten zu einem Hegemonialverhältnis: Die politische Bildung weiß, was gut für euch ist. Dies löst – verständlicherweise – Widerspruch und Widerstand aus. Und Fremdzuschreibungen führen zu Selbstzuschreibungen. Menschen lernen, dass sie zu einer bestimmten Gruppe gezählt werden, und übernehmen die damit verbundenen Einschätzungen als Selbstbild. Wenn jemand äußert, dass „Politik nichts für uns ist“ kann man dies als politisches Desinteresse deuten. Man kann es aber auch übersetzen in: „Wir sind nichts für die Politik.“ Dekonstruierende Ansätze können zeigen, dass entgegen dieser Deutung meist dennoch Interesse an politischen Fragen besteht (Calmbach/Borgstedt 2012 nennen dies „unsichtbares Politikprogramm“).

  Biografische Passung

Einteilungen in Zielgruppen sind immer notwendig unspezifisch. Sie werden dem Individuum nie gerecht. Der Sozialpädagoge Lothar Böhnisch hat schon vor einigen Jahren den Begriff der biografischen Passung eingeführt und meint damit die Anschlussfähigkeit und die Wirkungen politischer Bildung je nach Lebenssituation. Das Wissen über die Komplexität individueller Erfahrungshorizonte und biografischer Situationen hält er für wichtiger als Zielgruppenkonstruktionen: „Motiv, Anlass und Gelegenheit zum politischen Engagement wie auch zur Teilnahme an politischer Bildung müssen in einer günstigen Weise zusammentreffen.“ (Böhnisch/Fritz/Maier 2006, S. 107). Gründe, die Menschen davon abhalten, politisch zu lernen, sind also komplex. Sie dürfen „nicht losgelöst von individuellen, lebensweltlich geprägten Einsichten, Interpretationen und Bewertungen betrachtet werden“ (Reich-Claassen 2010:374). Politische Bildner*innen sollten in der Lage sein, „Lernmotive und Stile, Widerständigkeiten, Kompetenzen, Dispositionen als praktischen Ausdruck sozial verschlüsselter Ungleichheitsmuster zu dechiffrieren und daraus Handlungsformen zu entwickeln“ (Bremer 2007, S. 284).

 MIT der und nicht FÜR die Zielgruppe planen

Solche Handlungsformen setzen einen Perspektivwechsel und Kritik an bisherigen Arbeitsweisen voraus. Denn wirtschaftliche Erwägungen und Förderrichtlinien zwingen die politische Erwachsenenbildung oft dazu, ihre Angebote bis ins Kleinste vorzuplanen. Vorab identifizierte Defizite oder vermutetes Interesse der „Zielgruppe“ werden zum Ausgangspunkt genommen, um darauf ein klassisches didaktisches Modell aufzubauen, die Wahl von Bildungsthemen ebenso zu begründen wie die Setzung von Zielen und dem angemessenen Weg der Zielerreichung. Man arbeitet zielgruppenorientiert und gelungen ist ein Angebot, wenn es zielgruppengerecht ist. Trotz guter Absicht: Das ist hegemoniale politische Bildung, die für andere definiert, was gut ist.

 Will man dagegen zielgruppensensibel arbeiten, heißt dies zuallererst, mit den Zielgruppen zu arbeiten, anstatt für sie. Dann sollten Angehörige potenzieller Nutzer*innengruppen verantwortlich in die Angebotsplanung einbezogen werden, Teamer*innen und Referent*innen entsprechend divers sein. Längst ist überfällig, dass Organisationen, die marginalisierte Gruppen vertreten, an den Fachdiskursen politischer Bildung beteiligt werden. Das ist ein Weg vom Wissen über Zielgruppen zur gemeinsamen Wissensproduktion und Planung mit Zielgruppen.

 Politische Bildung als Koproduktion

Das heißt in der Regel, dass Angebote nicht fertig sein sollten, quasi Convenience-Produkte. Es geht vielmehr um politische Bildung, die erst in Koproduktion realisiert und immer wieder verändert werden kann. Dabei stehen Prozesse im Vordergrund, nicht Lernziele oder Ergebnisse. Dann werden Gelegenheiten zu politischer Bildung dort geschaffen, wo sie sich ergeben, wo Politik und Politisches in Lebenswelten ohnehin thematisiert wird, da, wo Menschen sich alltäglich bewegen. Häufig bedeutet das, dass politische Bildung öffentliche Räume des Austauschs und des Engagements schaffen muss. Hierbei kann der Übergang von Empowerment – im Sinne einer Unterstützung von politischem Engagement – und politischer Bildung – im Sinne von learning by doing – fließend sein. Die damit verbundenen Diskurse um Definitionsmacht (Was ist politische Bildung?) sind schwierig, aber zentral, denn sie bedeuten in der Regel auch einen An- oder Ausschluss von Förderprogrammen, wobei Letzteres die Segregation vom hegemonialen Fachdiskurs zusätzlich verstärkt. Immerhin zeigen aktuelle Diskussionen aber, dass sich auch „alte Hasen“ und „Etablierte“ darauf einlassen können und sollten, unterschiedliche Sichtweisen, Bedarfe und Zusammenhänge zu verstehen und zu verhandeln.

Kooperative und kollaborative politische Bildung ist das Ziel

 Entsprechende Arbeitsweisen und Formate, die nicht in vorgegebene Kategorien von Förderrichtlinien oder Weiterbildungsberichterstattung passen, müssen erkämpft werden. Es darf nicht sein, dass eine Defizitperspektive notwendig ist, um die Dringlichkeit der beantragten „Maßnahme“ zu betonen. Auch Beziehungs-, Kommunikations- und Kooperationsarbeit muss einkalkuliert werden, wenn zielgruppensensible politische Bildungsarbeit gelingen soll. Bisher ist sie aber eher unsichtbar oder ein Add-on und wird somit bei Ressourcenknappheit als erstes gestrichen. Dabei müsste man längst erkannt haben: Wir brauchen keine besseren Marketingstrategien, sondern mehr kooperative und kollaborative politische Bildung und dafür neue Förder-, Organisations- und Kooperationsmodelle.

CC BY SA 3.0 DE by Helle Becker für wb-web (Mai 2022)


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