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Numeralität als soziale Praxis und deren Bedeutung in der (Grund-)Bildung

Das Bild zeigt einen Restaurantbeleg neben einer Tasse Kaffee, auf dem einige Münzen liegen.

Bild von Marco Verch, auf flickr.com, CC BY 2.0

Der Ansatz Numeralität als soziale Praxis betrachtet, wie Menschen Numeralität nutzen und mit welchen individuellen wie auch sozialen Bedeutungszuschreibungen numerales Handeln verbunden ist. Was verbirgt sich hinter dem Ansatz und wie kann er in die mathematische (Grund-)Bildung einfließen? Dazu gibt der vorliegende Beitrag auf Basis von Forschungsergebnissen Auskunft.

 

Ausgangspunkt

Mathematische Grundfertigkeiten werden wie Lesen und Schreiben weitgehend als neutrale, erlernbare Kulturtechniken verstanden. Sie gelten für die aktive gesellschaftliche Teilnahme und Teilhabe als unabdingbar. Neben einer sog. „functional numeracy“, die vor allem formalisierte Rechenoperationen (z.B. Schulrechnen) umfasst und mit Blick auf individuelle mathematische Fertigkeiten auf deren Mess- und Bewertbarkeit abzielt, existieren Ansätze, die das individuelle Handeln und damit verbundene Bedeutungen und Begründungen bei der Anwendung mathematischen Wissens in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellen. Numeralität als soziale Praxis ist ein solcher Ansatz. Wir nutzten den Ansatz Numeralität als soziale Praxis im Rahmen unserer qualitativen Studie „Ohne Rechnen kommt man im Leben nicht weiter – Numeralität als soziale Praxis aus der biographischen Perspektive älterer Menschen“ [i]. Da er im Besonderen Erfahrungswissen sowie individuelle und kulturelle Ressourcen berücksichtigt, beinhaltet er auch für die (Grund-)Bildungspraxis fruchtbare Impulse und Anregungen.

Was ist unter Numeralität als soziale Praxis zu verstehen?

Der Ansatz Numeralität als soziale Praxis berücksichtigt nicht nur, dass Menschen in ihrem Alltag mathematisches Wissen anwenden, sondern zielt vor allem darauf ab zu verstehen, wie sie dies in alltäglichen Situationen und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Lebensbereichen tun. Bedeutsam sind dabei die jeweiligen Rahmenbedingungen und sozialen Interaktionen, die historisch, kulturell und sozial geprägt sind. Sie bestimmen das Handeln der Menschen und somit auch die Aneignung und Anwendung numeralen/mathematischen Wissens mit. Diese erweiterte Sichtweise auf die Anwendung und Nutzung mathematischen Wissens (numerale Praktiken) wird von Brian Street [ii], dem Begründer dieses Ansatzes, als ideologisches Modell bezeichnet. Darin wird davon ausgegangen, dass numerale Praktiken immer in Kontexte eingebunden und von vorherrschenden gesellschaftlichen Machtverhältnissen durchdrungen sind. Diesem Modell stellt Street das autonome Modell gegenüber. Es geht von der Unabhängigkeit sozialer Kontexte aus und schreibt Numeralität neutrale Eigenschaften zu, die in Bezug auf Zeit, Raum und Person universell sind und als verallgemeinerbar gelten. Im Ansatz Numeralität als soziale Praxis werden beide Modelle diskutiert, sie stellen unterschiedliche Perspektiven auf Numeralität dar, wobei das ideologische Modell als eine Erweiterung des autonomen Modells verstanden wird. Mithilfe der erweiterten Perspektive im Ansatz Numeralität als soziale Praxis kommen vielfältige individuelle Anwendungsformen, subjektiv begründetes Alltagshandeln sowie soziale Praktiken und machtvolle Handlungsstrukturen in den Blick (ideologisches Modell). Diese wirken auch im autonomen Modell, werden hier jedoch kaum sichtbar oder bewusst wahrgenommen. Es wird deutlich, dass mathematisches Wissen auf vielfältige Weise genutzt wird. Numeralität als soziale Praxis fragt nach den individuellen wie auch gesellschaftlich dominanten Bedeutungszuschreibungen für numerales Handeln in seiner ganzen Vielfalt.

Bei der analytischen Betrachtung von Numeralität als soziale Praxis wird zwischen numeralen Ereignissen und Praktiken unterschieden. Numerale Ereignisse bezeichnen zunächst jegliche Situationen, in denen mathematisches Wissen (in seinen vielfältigen Formen) zur Anwendung kommt, wie beim Einkauf oder der Zubereitung von Lebensmitteln. Als numerale Praktiken werden die individuell oder auch kollektiv begründbaren numeralen Handlungen bezeichnet, die in soziale Kontexte eingebunden und durch sie geprägt sind. Numerale Praktiken können auch unsichtbar erfolgen, da sie, wie Kopfrechnen, Schätzen oder Überschlagen, mental durchgeführt werden.

Die folgende Tabelle beinhaltet Beispiele aus unserer Studie, in der ältere und hochbetagte Menschen zur Alltagsmathematik befragt wurden [i]. Sie zeigt exemplarisch, in welchen Handlungsdomänen numerale Ereignisse und individuelle numerale Praktiken im Alltag zu finden sind. Es wird deutlich, dass bei einem bestimmten numeralen Ereignis verschiedene individuelle – auch biographisch geprägte – Praktiken zur Anwendung kommen. Je nach dem, in welcher Kultur, zu welcher (historischen/politischen) Zeit, in welchem Elternhaus jemand aufwuchs, welche Interessen entwickelt und Bildungs- sowie Entwicklungswege (bislang) beschritten wurden, wählen Menschen unterschiedliche Vorgehensweisen für die Bearbeitung ein und derselben Situation. Sie entwickeln vielfältige Wege einen Kuchen zu backen, ein Haushaltsbuch zu führen oder Geld zu sparen. In numeralen Praktiken spiegeln sich (häufig) Werte und Normen, Haltungen, Emotionen und Machtstrukturen wider, die dem jeweiligen Handlungskontext und der subjektiven Handlungsbegründung zugrunde liegen.
 

Numerale AlltagsdomäneEreignisse im Kontext von NumeralitätIndividuelle numerale Praktiken
Numeralität und Ernährung/LebensmittelzubereitungBacken eines Kuchens

-          Verwendung einer Küchenwaage für exaktes Abwiegen der Zutaten

-          Benutzung des Thermomix, der u.a. das Abwiegen und Vermengen der Zutaten übernimmt

- Freies Abschätzen der Mengen (aus der Lamäng), da es sich um ein altes Familienrezept handelt und Erfahrungswerte vorliegen

Numeralität und Freizeit Planung einer Fahrradtour unter Berücksichtigung von Kilometern und Streckenabschnitten 

-          Verwendung einer Fahrradkarte im Papierformat

-          Ausarbeitung einer Fahrradstrecke mithilfe einer speziellen App

- Benutzung eines digitalen Routenplaners 

Numeralität und FinanzenFühren eines Haushaltsbuches, um Kosten im Blick zu behalten

-          Handschriftliche Eintragungen von Ein- und Ausgaben in ein dafür vorgesehenes Buch

-          Benutzung einer speziellen App, die ein digitales Haushaltsbuch darstellt

-          Verwendung des Excel-Programms, bei dem im PC die Ein- und Ausgaben in eine Tabelle eingetragen werden

- Gebrauch einer speziellen Buchhaltungssoftware

(Ein-)Sparen/ Minimieren von Kosten

-          Kalkulieren von Kosten und dadurch Maßnahmen zur Verringerung dieser (bspw. Verkauf des Autos und Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel, Umzug in eine kostengünstigere Wohnung)

-          Sammeln von Bons, auf deren Grundlage ein Haushaltsbuch detailliert geführt wird. Es werden auch die kleinen täglichen Ausgaben festgehalten (wie der Coffee-To-Go), um unbewusste „Geldlöcher“ zu erkennen.

- Studieren von Angeboten und Vergleich von Preisen beim Einkaufen

Numeralität und GesundheitLaufen/Spazierengehen im Rahmen der individuellen Gesundheitsprävention

-          Benutzung von Fitnesstrackern oder Smartwatches, die automatisch das Zählen der Schritte übernehmen

-          Selbst Schritte zählen

- Regelmäßig eine bestimmte Strecke laufen, deren Länge bekannt ist. 

Mentaltraining (Durchführen von Übungen für die geistige Fitness)

-          Auswendiglernen von Telefonnummern

-          Regelmäßig Kartenspielen mit Freunden wie Skat

-          Kopfrechnen (bspw. Preise an der Supermarktkasse im Kopf addieren)

-          Besuch von organisierten Gedächtnistrainings

- Lösen von Sudokus

Wie kann der Ansatz Numeralität als soziale Praxis in der Grundbildung Anwendung finden?

In unserer Studie haben wir ältere Personen (65-92 Jahre) zur Alltagsmathematik und ihren numeralen Praktiken befragt. Der Fokus auf Ältere folgt der Idee, sowohl biographische Entwicklungen in Bezug auf Numeralität einer bestimmten Alterskohorte als auch über die Lebensspanne zu erfassen. Unsere Befunde beziehen sich zum einen auf bestimmte Generationen, zum anderen sind auch allgemeingültige Aussagen über Numeralität als soziale Praxis möglich. Der Ansatz ist nicht nur auf alle Alters- und Personengruppen anwendbar, es ist zudem möglich, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungsprozesse zu berücksichtigen. Numeralität als soziale Praxis zeichnet aus, dass numerale Fähigkeiten und Fertigkeiten aus einem ressourcenorientierten Blickwinkel betrachtet werden. Statt einer Defizitorientierung ermöglicht der Ansatz, die vielfältigen numeralen Praktiken, die Menschen in ihrem Alltag bereits anwenden und für sich entwickeln, in den Mittelpunkt zu stellen und als positive Ressource zu verstehen.

Wird das Konzept Numeralität als soziale Praxis in Veranstaltungen der Erwachsenenbildung, bspw. im Rahmen mathematischer Grundbildung berücksichtigt, hat dies Konsequenzen für die didaktisch-methodische Gestaltung und spiegelt sich in der Haltung und Einstellung der Kursleitenden gegenüber dem bereits vorhandenen mathematischen Wissen und den Kenntnissen der Teilnehmenden wieder.

Zunächst erscheint es hilfreich, in einem Dialog mit den Lernenden herauszufinden, auf welche Weise sie mit Mathematik/Rechnen/Numeralität in ihrem Alltag in Berührung kommen und wie sie bisher mit numeralen Handlungsanforderungen umgegangen sind. So können vielfältige numerale Ereignisse und (versteckte) numerale Praktiken bewusst gemacht werden, die die Teilnehmenden bereits (unbewusst) anwenden. Die Bewusstmachung vorhandener mathematischer Fähigkeiten und Fertigkeiten bestärkt die Lernenden in ihrem Handeln. Individuelle Ressourcen und Alltagssituationen können zum Gegenstand weiterer Lehr-Lern-Prozesse im Sinne von Anschlusslernen genutzt werden. Es ist davon auszugehen, dass mathematische Lernprozesse den Teilnehmenden leichter fallen und sie sich auf einen Lernprozess einlassen, wenn sie an bisheriges Können anschließen und damit Bezug nehmen auf ihre jeweiligen subjektiven Gründe. Das Abfragen von formalisiertem Wissen und dessen Bewertung würde in diesem Zusammenhang eher kontraproduktiv wirken.

Was bedeutet Numeralität als soziale Praxis für mich als Kursleitende?

Für Lehrende in der Grundbildung ist es hilfreich, sich mit dem Ansatz Numeralität als soziale Praxis vertraut zu machen, um ein Bewusstsein für die meist unsichtbaren, unbewussten numeralen Praktiken von Teilnehmenden zu entwickeln. Kapitel drei unserer Publikation hilft hierbei [i]. In diesem Zusammenhang werden individuelle Konzepte und Einstellungen von Kursleitenden zur Numeralität reflektiert und es wird über individuell bedeutsame Zuschreibungen, Werte, Haltungen und Emotionen sowie über das eigene Verständnis von Alltagsmathematik diskutiert.

Durch die Anerkennung individueller numeraler Praktiken und Lösungsstrategien der Lernenden, die u. U. von standardisierten Rechenwegen abweichen können, nehmen Lehrende und Mitlernende eine wertschätzende Haltung in Bezug auf die (individuellen biographischen) Erfahrungen der Teilnehmenden ein. Dies stärkt zugleich das Selbstwirksamkeitserleben der Lernenden und kann motivierend auf den weiteren Lernprozess wirken. Der Ansatz Numeralität als soziale Praxis ermöglicht einen differenzierten Blick, der über das allgemeine Verständnis von Mathematik/Numeralität als einer abstrakten und neutralen Kulturtechnik hinausgeht. Es wird damit ein Raum eröffnet für individuelle Erfahrungen und subjektives mathematisches Wissen.  Deutlich wird, dass es im mathematischen Handeln zuweilen nicht nur eine richtige Lösung gibt, sondern dass verschiedene Wege zum Ziel führen. Bisherige ablehnende Einstellungen und Haltungen zu Mathematik/Numeralität sogenannter bildungsungewohnter Teilnehmender können sich durch ein solches Lehr-Lernsetting verändern.

CC BY-SA 3.0 DE by Melanie Benz-Gydat, Antje Pabst & Christine Zeuner für wb-web (11.09.2023)


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