Erfahrungsbericht

Reformpädagogik für Erwachsene

Das Bild zeigt einen gemalten Hügel mit Gras und Blumen auf dem die Hufspuren eines Pferdes und die eines Menschen nebeneinander Richtung Horizont laufen.

In der sogenannten Hippolini-Lehrkraft-Ausbildung habe ich nicht nur eine reformpädagogische Reitlehrmethode kennengelernt, sondern konnte in dem besonderen Ausbildungskonzept die Sichtweise der Lernenden, der Lehrenden und der Konzeptentwicklerin einnehmen. Das hat mir als Lehrkraft einen sehr guten und umfassenden Blick auf mein eigenes Kurskonzept gegeben.

Über das Ausbildungskonzept

Ich hatte bislang keine großen Berührungspunkte mit der Reformpädagogik im Allgemeinen und kannte nur plakative positive und negative Vorurteile über Waldorfschulen und ihre alternativen Lehr- und Lernmethoden. Überhaupt dachte ich immer, dass Reformpädagogik sich nur auf die Altersgruppe der Kinder bezieht.

Umso spannender fand ich es, mich im Hippolini-Ausbildungskonzept nicht nur näher mit dem Thema Reformpädagogik zu beschäftigen, sondern das Lernen nach diesen Grundsätzen auch selbst als Erwachsene praktisch zu erfahren und mir dadurch eine eigene fundierte Meinung bilden zu können.

Die Ausbildung zur Hippolini-Lehrkraft fußt auf drei Säulen: Theoretische Grundlagen (Pferde-/Reitwissen und Pädagogik), Selbsterfahrung des Reitlernkonzeptes und Erlernen der Lehrmethode. In der Selbsterfahrung nehmen die Lehrkraft-Anwärter*innen die Position der Lernenden ein und durchlaufen exemplarisch einzelne Stundenbilder. Obwohl ich eine erfahrene Reiterin bin, konnte ich nach den Selbsterfahrungseinheiten viel besser nachvollziehen, welche Herausforderungen einzelne Aufgaben den Einsteiger*innen abverlangen, wo Gefahrenpotenzial lauert, was überfordern oder im Gegenteil langweilen kann. Die Selbsterfahrung wurde wiederum in der Ausbildungsgruppe reflektiert, Erfahrungen ausgetauscht und Konsequenzen für die Lehrkräfte abgeleitet. Mit dem theoretischen Wissen und den Erkenntnissen aus der Selbsterfahrung ging es jeweils im Anschluss in die Lehrpraxis. Hier wurden gemeinsam mit erfahrenen Lehrkräften echte Kurse durchgeführt und geübt, die Teilnehmenden bestmöglich anzuleiten und zu unterstützen, aber auch sich an den passenden Stellen zurückzunehmen und die Teilnehmer*innen ihre Herausforderungen selbstständig meistern zu lassen.

Diese Art der Ausbildung gründet auf dem reformpädagogischen Ansatz von Maria Montessori „Hilf mir, es selbst zu tun“: Durch die Selbsterfahrung und das theoretische Grundwissen, ist es möglich, selbst seinen Lehrstil zu entwickeln, eigene Ideen auszuprobieren und in der Lehrpraxis zu erkennen, welche Art der Lernbegleitung besonders erfolgreich ist. Durch die vorgeschriebenen Hospitationen über die Seminarerfahrungen hinaus, konnte ich außerdem durch Beobachtung und Mitmachen noch viele andere und unterschiedliche Lehrstile kennenlernen und mir von jeder Lehrkraft ein klein wenig für meine eigene Lehrpraxis mitnehmen.

Die Abschlussprüfung

Auch die Zertifizierung lief anders ab als klassische Abschlussprüfungen sonst. Der Umfang der Prüfung war recht hoch: im Vorfeld das Verfassen einer schriftlichen Abschlussarbeit, am Prüfungstag selbst zwei praktische Prüfungen, eine schriftliche Prüfung und die mündliche Vorstellung der Arbeit sowie daran gekoppelt ein Feedbackgespräch zur schriftlichen Arbeit und der Leistung in den praktischen Prüfungen.

Für die praktischen Prüfungen gab es Zielvorgaben, die es zu erreichen galt. Es zählte aber nicht die perfekte Präsentation. Fehler waren weder schlimm noch im Ergebnis entscheidend. Es zählte vor allem der Umgang damit. Konnte ich vorausschauend planen oder ggf. erkennen, was gerade schieflief? Konnte ich mein Verhalten korrigieren? Gelang es mir für die Lerngruppe und Tiere eine wertschätzende und motivierende Lernatmosphäre zu schaffen? Konnte ich selbst bei auftretenden Problemen für mich und gleichermaßen die Teilnehmenden einen Lernzuwachs erzielen?

Auch die schriftliche Prüfung erschien anders als herkömmliche Testate: Auf dem Fragebogen sollten die Fragen vorab markiert werden mit „kann ich direkt beantworten“, „ich kann die Antwort nicht (vollständig) geben, weiß aber, wen ich fragen, oder wo ich in meinen Unterlagen nachschauen muss“ und „ich kann diese Frage nicht beantworten“. Auf einem Extrablatt mussten dann alle Fragen beantwortet werden, die zur ersten Kategorie gehörten. Anschließend hatten wir die Möglichkeit in der Prüfungsgruppe kollektiv die Fragen aus der zweiten Kategorie gemeinsam zu besprechen und zu beantworten. Gemeinsam mit der Prüferin wurden dann alle Fragen noch einmal durchgegangen, die Antworten abgeglichen und wären Fragen aus der dritten Kategorie vorhanden gewesen, hätten diese noch einmal geklärt werden können. Das war aber in meiner Prüfungsgruppe nicht der Fall. Auf die anfängliche Verwunderung, dass eine schriftliche Prüfung ohne Zählen von Fehlern und Punkten auskommen kann, erklärte die Prüferin, dass es ihr nicht darum ginge, Fehler zu suchen, sondern Schätze zu finden. Das mag ein wenig pathetisch klingen, aber das Bild hat mir trotzdem gut gefallen.  

Im Feedbackgespräch wurde die eigene Leistung aus allen Prüfungsteilbereichen noch einmal reflektiert, Lob ausgesprochen, konstruktive Kritik geübt und bereits ein Netzwerk aufgespannt, wie zukünftig Fragen, Ideen, Herausforderungen und Probleme in der pädagogischen Arbeit besprochen werden können.

Fazit und Transfer für die Erwachsenen- und Weiterbildung

Die Ausbildung hat durch das Einnehmen der drei unterschiedlichen Perspektiven - Teilnehmende*r, Lehrkraft und Auszubildende*r - meinen Blick geweitet und viel Wissen, aber auch Verständnis für die anderen Seiten geschaffen. Die verschiedenen Sichtweisen einzunehmen, kann unabhängig von Inhalt und Bildungsform und -angebot in der Kursplanung und -durchführung einen Mehrwert schaffen: Lehrkräfte können dadurch ihre Lehr- und Lernziele besser wählen und formulieren und die Sichtweise der Anwärter*innen kann das eigentliche Ausbildungskonzept, bzw. das allgemeine Lehrkonzept kritisch hinterfragen, da sie noch nicht auf ein bestimmtes Konzept „eingefahren“ sind.

Während meiner Ausbildung, aber auch während der Prüfung standen immer meine eigenen Stärken oder deren Weiterentwicklung im Fokus. Das bedeutet nicht, dass Schwächen verschwiegen, sondern diese immer in Bezug auf das Entwicklungspotenzial betrachtet wurden. Das ist ein stärkender Ansatz, den es viel häufiger in der Erwachsenenbildung geben sollte: Wird immer nur darauf geschaut, was nicht funktioniert, ist man im Lernprozess schnell frustriert und demotiviert. Lerne ich dagegen, wie ich meine Stärken gezielt einsetzen und mich an meinen Schwachpunkten weiterentwickeln kann, gehe ich positiv und selbstbewusst in die Zukunft und entwickle mich weiter.

Ich habe während der Ausbildungswochen freiwillig und gerne gelernt, möglicherweise vor allem deswegen, weil mich niemand dazu gezwungen hat. In der Prüfungssituation war ich angenehm überrascht, dass nicht danach gesucht wurde, was ich möglicherweise nicht wusste oder konnte, sondern ich als engagierte Lernende ernst genommen wurde und man davon ausging, dass ich mein Bestes zu geben versuche und meine Leistung wie sie war, richtig und gut ist. Ähnliches konnte ich bei den anderen Prüflingen beobachten: Obwohl in der Prüfung keine Punkte gezählt wurden und von vorneherein klar war, dass die Zertifizierung nur durch Verweigerung hätte platzen können, waren alle Teilnehmenden sehr gut vorbereitet und hätten bei einer Notenvergabe sicherlich die besten Auszeichnungen erhalten. In der Erwachsenenbildung ist also nicht notwendigerweise Druck beispielsweise durch Noten, Bewertungen oder Badges zum Lernen erforderlich, sondern die Vermittlung eines klaren Ziels: Was lerne ich wie, warum und wofür?!

Als erwachsene Person, die sich selbstbestimmt in eine Fortbildungssituation begeben hat, war diese wertschätzende und stärkende Lernbegleitung durch das reformpädagogische Ausbildungskonzept sehr angenehm. So fühle ich mich motiviert und selbstbewusst, das Gelernte in der Praxis anzuwenden und traue mir zu, auch mit unvorhergesehenen oder schwierigeren Situationen umzugehen. Ich denke, dass dieser Ansatz auch für viele andere Erwachsene geeignet ist: Durch die Freiwilligkeit und das Eigeninteresse besteht bereits eine hohe Motivation und eine Leistungsbereitschaft bei den Lernenden, die von Lehrenden aufgenommen, genutzt und entsprechend der Lernziele gelenkt werden kann.

Darüber hinaus ist das Hospitieren ein wichtiger Bestandteil der eigenen Entwicklung als Lehrkraft. Die meisten Lehrenden in der Erwachsenen- und Weiterbildung sind freiberuflich unterwegs und müssen daher oft als Einzelkämpfer*innen ihren Arbeitsalltag bestreiten. Je mehr wir uns aber untereinander austauschen, Materialien teilen, einander beim Lehren beobachten oder selbst als Lernende an Kursangeboten teilnehmen, desto umfangreicher sind unser Erfahrungsschatz, unser Methodenrepertoire, unsere Problemlösestrategien und insgesamt unser Wissen und Können!

CC BY-SA 3.0 DE  by Christina Bliss für wb-web (19.07.2023)


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