Chris Nowacki
Forschung quergelesen
Forschung quergelesen: Nicht-Teilnahme an Grundbildungskursen

54 Seiten stark, bei uns zusammengefasst: Die neue Studie des SVEB ( eigene Bildkomposition, CC-BY-SA 4.0).
In der Schweiz verfügen rund 30 Prozent der Erwachsenen über geringe Grundkompetenzen wie Lesen, Schreiben, Rechnen sowie Demokratie-, Finanz- und Problemlösungskompetenzen. Trotz dieses Bedarfs ist die Teilnehmendenquote vergleichsweise gering für Weiterbildungsangebote, die gezielt auf die Förderung dieser Kompetenzen abzielen.
Zur Erforschung der subjektiven Gründe für die Nicht-Teilnahme hat der SVEB Interviews mit 20 gering literalisierten Personen geführt, die seit mindestens drei Jahren kein Grundbildungsangebot besucht haben.
Forschungsmethode
Die Studie nutzt einen qualitativen, teilnarrativen Interviewansatz, der individuelle Erfahrungen, Sichtweisen und Bewältigungsstrategien im Umgang mit geringen Grundkompetenzen in den Mittelpunkt stellt. Die Interviews fanden zwischen September 2023 und April 2024 statt.
Die Teilnehmenden wurden gezielt ausgewählt, um vielfältige biografische Hintergründe abzubilden. Die Zielsetzung der Studie ist keine statistische, sondern eine inhaltliche Repräsentativität: Die unterschiedlichen Hintergründe und Verhaltensweisen von
Nicht-Teilnehmenden sollten sichtbar gemacht werden. Voraussetzung für die Teilnahme war ein Sprachkompetenzniveau auf etwa B1, um eine ausreichende Gesprächsbasis zu gewährleisten. Etwa die Hälfte hatte zudem ihre Grundschulbildung im Ausland absolviert.
Zentrale Ergebnisse
Nicht-Teilnehmende bilden keine homogene Gruppe. Ihre Lebenswelten sind vielfältig, geprägt von stark unterschiedlichen Biografien, sozialen Kontexten und individuellen Bewältigungsstrategien.
Grundkompetenzen haben für die Betroffenen im Alltag eine große Bedeutung, allerdings werden sie weniger als neutral, sondern vielmehr als gesellschaftlich konstruierte Anforderungen erlebt. Damit entsteht eine wahrgenommene Spaltung zwischen den geringliteralisierten Personen und der Mehrheit der Gesellschaft, die über die „dominante“ Literalität verfügt.
Viele Teilnehmende empfinden ihren Alltag trotz eingeschränkter Grundkompetenzen als durchführbar. Sie entwickeln eigene Strategien, um den Anforderungen gerecht zu werden und sehen daher oft keinen unmittelbaren Grund zur Teilnahme an Kursen.
Implikationen für die Erwachsenenbildung
Daraus lassen sich auch Konsequenzen für die Erwachsenenbildung ableiten:
- Angebote müssen lebensweltlich anschlussfähig, relevant und vielfältig gestaltet sein.
- Praxisnähe, niedrigschwellige Zugänge und Flexibilität sind wichtig.
- Gesellschaftliche Sensibilisierung und Entstigmatisierung geringer Kompetenzen sind notwendig.
- Der gezielte Einsatz technischer Hilfsmittel und der Ausbau unterstützender sozialer Netzwerke können Barrieren abbauen.
Gründe für die Nicht-Teilnahme
Die Analyse zeigt, dass die Nicht-Teilnahme nicht primär durch klassische Hürden wie Zeitmangel oder Informationsdefizite erklärbar ist, sondern vor allem durch tiefer liegende persönliche Vorerfahrungen:
- Negative Bildungserfahrungen: Viele Interviewte berichten von Schulversagen, Ausgrenzung und beschämenden Erlebnissen, die defensive Bildungsbiografien geprägt haben. Formale Lernkontexte erscheinen oftmals als bedrohlich oder als Einschränkung der eigenen Selbstständigkeit.
- Ressourcenknappheit: In prekären Lebenslagen sind regelmäßige Kursteilnahmen wegen gesundheitlicher Probleme, unsicherer Erwerbsperspektiven oder familiärer Belastungen oft schwer realisierbar.
- Gesellschaftlicher Druck: Viele erleben besondere Aufmerksamkeit aufgrund ihrer geringen Kompetenzen, verbunden mit Abwertung und Zuschreibung zusätzlicher negativer Eigenschaften – das führt zu Ängsten und Rückzug.
- Bildungswiderstand: Manche sehen klassische Angebote als nicht anschlussfähig oder sogar als unnötige Zumutung und entwickeln daher einen bewussten Widerstand gegenüber Weiterbildungsangeboten.
Gleichzeitig äußern viele Lernbedürfnisse, vor allem im informellen, alltagspraktischen Bereich. Lernen wird dann positiv bewertet, wenn es unmittelbar an die jeweilige Lebenswirklichkeit anschließt oder persönliche Ziele damit realisierbar werden.
Strategien der Betroffenen
Die Befragten nutzen unterschiedliche Strategien, um im Alltag mit geringen Grundkompetenzen zu leben:
- Rückzug oder Vermeidung herausfordernder Situationen
- Aktivierung von Unterstützung aus dem sozialen Umfeld
- Nutzung technischer Hilfsmittel zur Kompensation
- Gezielte Anstrengungen zur Bewältigung von Situationen
- Akzeptanz der eigenen Situation
Die soziale Umwelt spielt eine zentrale Rolle: Abwertende Fremdzuschreibungen können den Zugang zu Weiterbildung erschweren, während unterstützende Netzwerke motivierend wirken und Barrieren abbauen können.
Fazit
Die Studie verdeutlicht, dass es keine einheitliche Strategie gibt, um Menschen mit geringen Grundkompetenzen zur Teilnahme an Bildungsangeboten zu bewegen. Nicht-Teilnahme eine subjektiv begründete Entscheidung, die vielfach auf komplexen biografischen, sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhängen beruht.
Um Nicht-Teilnehmende wirksam zu erreichen und zu unterstützen, ist stellenweise mehr Akzeptanz gegenüber dem Verhalten der Nicht-Teilnehmenden und einer Orientierung an ihren Lebenswelten und Bedarfen notwendig. Dabei sollten Bildungsangebote und ihre Ansprache sprachlich, inhaltlich und organisatorisch stärker an die Lebensrealitäten der Zielgruppe angepasst werden, um die subjektive Relevanz zu stärken und dadurch auch die Lernmotivation und den Teilnahmewillen zu fördern.
Quelle:
Buchs, H., & Weber, L. (2025). Subjektive Sichtweisen auf Grundkompetenzen: Gründe für eine Nicht-Teilnahme an Angeboten. Schweizerischer Verband für Weiterbildung (SVEB). https://alice.ch/app/uploads/2025/07/bericht-nicht-teilnahme-an-weiterbildung.pdf
"Subjektive Gründe für Nicht-Teilnahme an Grundbildungsangeboten in der Schweiz" von Chris Nowacki für wb-web (2025), CC-BY-SA 4.0.