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Hybridisierung der Bildung
Der Frage, warum sich Lernangebote im digitalen Wandel neu erfinden müssen, geht Jöran Muuß-Merholz in einem Grundsatztext zur tatsächlichen Hybridisierung der Bildung nach. Er schätzt die Coronakrise als Katalysator für einen Digitalisierungsschub in allen Bildungsbereichen ein. Muuß-Merholz sagt: Das Lieblingswort im deutschsprachigen Diskurs lautet offenbar: „hybride“ Lehr-Lern-Formen. Die als „hybrid“ bezeichnete Neuordnung von „digital plus analog“ oder „online plus Präsenz“ beschreibt aber nur die Oberfläche. Die tatsächliche Hybridisierung liegt tiefer und steht für einen größeren, grundlegenden Umbruch.
Bild links, vor dem digitalen Wandel: Bildungsangebote sind ordentlich in verschiedene Felder aufgeteilt. Bild rechts, im digitalen Wandel: Die Grenzen zwischen den Feldern sind verwischt, die Felder kuddelmuddelig durcheinander gewachsen, neu verzahnt und verwoben, teilweise schlecht unterscheidbar.
Hybride Lehr-Lern-Angebote
Im Diskurs um die zunehmende Bedeutung digitaler Medien beim Lehren und Lernen ist „hybrid“ ein sehr beliebtes Wort. Dahinter verbergen sich unterschiedliche Bedeutungen. Häufig wird „hybrid“ einfach als neuer Begriff für das alte Konzept von blended learning verstanden und bezieht sich auf eine Kombination von Präsenz- und Online-Lernen.
In den etwas fortgeschrittenen Diskussionen wird damit auch die Neuausrichtung von synchronen und asynchronen Phasen verbunden. Was können die Lehrenden und Lernenden gut online machen, was gut in Präsenz? Wofür sollen sie gleichzeitig (synchron) arbeiten, wo ist asynchrones Arbeiten sinnvoll?
(Exkurs: Ich vermute, die Beliebtheit des Begriffs „hybrid“ liegt darin begründet, dass man sich auf einen vermeintlichen Kompromiss einigt, nach dem Motto: „Wir vereinen das Beste aus beiden Welten.“ Damit verschiebt man die Auseinandersetzung einfach nur eine Ebene weiter, nämlich auf die Fragen nach der konkreten Ausgestaltung.)
Die tatsächliche Hybridisierung des Lehrens und Lernens
Die Diskussionen um hybride Lehr-Lern-Settings sind nicht falsch. Allerdings beziehen sie sich auf eine Beschreibung der Oberfläche. Schaut man genauer hin, findet man eine Hybridisierung, die aus einem epochalen Wechsel des Leitmediums entspringt und für grundlegende Veränderungen sorgt. Und das geht so:
Der digitale Wandel sorgt für eine Vermischung/Hybridisierung von drei Bereichen, die für Bildungsangebote elementare Kategorien darstellen:
- Treffen, Veranstaltungen (synchron: gleicher Ort, gleiche Zeit)
- Materialien, Publikationen (asynchron: ungleicher Ort, ungleiche Zeit)
- Austausch, Netzwerk (eher synchron, häufig „Nebenwirkung“ von A.)
Diese drei Kategorien hatten schon immer miteinander zu tun. Dennoch waren es per default drei unterschiedliche Bereiche, die getrennt gedacht und häufig von unterschiedlichen Akteuren geplant und umgesetzt wurden. Einige Beispiele aus der prä-digitalen Welt:
- In der Hochschule gibt es die Vorlesung (synchron, Treffen), das Lehrbuch (asynchron, Material) und das Tutorium oder die Mensa (synchron, Austausch).
- In der Bildungsarbeit einer Stiftung / Kirche / Gewerkschaft gibt es eine Abteilung „Veranstaltung“, eine Abteilung „Publikationen“ und eine Abteilung „Engagement / Netzwerk“.
- In der Schule gibt es den Unterricht, das Schulbuch und Gespräche in den Pausen oder am Nachmittag.
- In der beruflichen Weiterbildung besuchen Arbeitnehmer*innen ein Seminar, lesen ein Buch oder sprechen mit Kolleg*innen.
- In der non-formalen Bildung schaue ich eine Fernsehsendung, lese Zettel am Schwarzen Brett und bin Mitglied eines Sprach-Stammtischs.
Vermischungen von Veranstaltungen, Materialien und Austausch
Unten folgen einige Beispiele aus der Gegenwart, die mitten drin im digitalen Wandel steckt. In den Beispielen gehen gezielte Konzepte und kuddelmuddelige Praxis kreuz und quer durcheinander – wie in der Realität auch.
- In der Hochschule werden Inputs als Video verteilt, die teils synchron, teils asynchron und in 1,5-facher Geschwindigkeit wahrgenommen werden. Ist das eine Veranstaltung oder ein Material? Spätestens, wenn Studierende sich das gesprochene Wort „heimlich“ von einer Diktierfunktion in ein Skript umwandeln lassen, ist die Veranstaltung gleichzeitig ein Material. Und unabhängig davon, ob die Studierenden synchron oder asynchronen einen Vortrag hören oder lesen, können sie sich dazu parallel in einer Messengergruppe austauschen.
- In der Bildungsarbeit oder Weiterbildung wird die 1,5-tägige Tagung durch eine Online-Themenwoche ersetzt. Inputs und Diskussionsrunden stehen als Video bereit, entweder im Vorfeld oder im Nachgang. Wenn man online den Zugang nicht künstlich einschränkt, erreicht dieses Material mehr Menschen nach Abschluss der Themenwoche als während der Veranstaltung selbst. Zum Austausch gibt es eine Messengergruppe, von der alle am letzten Tag der Themenwoche glauben, dass sie auch in der Zukunft noch sinnvoll wäre. In dieser Gruppe werden auch Materialien geteilt.
- In der Schule wird in Zeiten von Homeschooling/Distanzlernen das „Unterrichten“ (eigentlich Treffen) in den Modus „Material verteilen“ umgestellt. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob der Austausch untereinander – ob auf dem Schulhof oder im Klassenzimmer – in Präsenz nicht die „heimliche Killer-Applikation“ war, die wir erst jetzt richtig einschätzen.
- In der non-formalen Bildung schaue ich TikTok-Videos, springe nahtlos zu einem Livevideo und lerne über die Kommentare eine interessante Person kennen.
Wie sieht die neue Vermischung aus?
Die Beispiele zeigen: Hybrides Lehren und Lernen bedeutet, wenn man unter die Oberfläche schaut, dass die traditionellen Grenzen zwischen 1. Treffen/Veranstaltungen, 2. Materialien/Publikationen und 3. Austausch/Netzwerk verwischen. Die drei Bereiche vermischen sich und setzen sich neu zusammen, verweben und verzahnen sich. Die Digitalisierung macht unser Lehren und Lernen kuddelmuddeliger und vielfältiger. Wir können und müssen unsere Formen und Formate neu erfinden.
PS: Jedes Lernen ist hybrides Lernen.
Die Rede von „hybridem Lernen“ oder „blended learning“ ist übrigens ein gutes Beispiel für einen lehrseitigen Blick auf die Dinge. Wenn man die Perspektive der Lernenden einnimmt, wird klar, dass die vermeintlich gut sortierte Ordnung nur oberflächlich ist. Denn:
- In jedem Onlinesetting befinden sich alle Beteiligten immer auch an einem physischen Ort.
- In jedem Präsenzsetting haben die Menschen (fast) immer auch einen Online-Zugang dabei.
Diese Ebenen werden häufig ignoriert oder als Störung wahrgenommen. Das ist vermutlich ein Phänomen des Übergangs: Das Alte funktioniert nicht mehr so richtig, aber das Neue ist noch nicht klar erkennbar.
CC-BY-SA 4.0 by Jöran Muuß-Merholz / Agentur J&K – Jöran und Konsorten unterstützt durch Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), erstveröffentlicht auf https://selbstlernen.net am 31.07.2021