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Brexit wegen Blödheit? Welche Lehren kann die Erwachsenenbildung ziehen?
In Deutschland verlieren die Parteien seit Jahren mehr und mehr Mitglieder – nur noch ungefähr jede achtzigste Person ist in einer Partei engagiert. Zum Vergleich: In der Bundesrepublik des Jahres 1977 hatte allein die SPD, auf dem Höhepunkt ihrer Mitgliederzahlen, ungefähr so viele Personen mit Parteibuch wie alle Parteien heute zusammen. In Großbritannien hat sich die Zahl der Parteimitglieder seit 1980 mehr als halbiert!
Das ist ein europäischer Trend, mit Ausnahme von Spanien, Estland und Griechenland, wie man hier auf Englisch und hier auf Deutsch gut sehen kann. Diese Entwicklung zeigt sich auch in der Wahlbeteiligung.
Die Zahl der Vereine in Deutschland wächst, wobei sich dadurch das Problem der Mitgliedergewinnung ergibt und Posten unbesetzt bleiben. Sie haben, ebenso wie Verbände, eine dauerhaft sinkende Teilnahme, besonders von jungen Menschen, zu beklagen.
Zwar gibt es noch Einflussmöglichkeiten – deren Bedeutung sollte jedoch nicht überschätzt werden. Gleichzeitig stellen sich z.B. folgende Fragen: Wie stark beeinflusst der Kreisverband der FDP in Wanne-Eickel die Politik der EU zur Rückerstattung bei ausgefallenen Flügen? Welche Chancen hat eine Bürgerinitiative aus Bitterfeld, bei der Verteilung von EU-Geldern in entweder Landwirtschaft oder Kultur mitzusprechen? Konkret, was bringt die Teilnahme in diesen Institutionen Einzelnen für die Verbesserung ihres Lebens?
Bildung kann und sollte jedoch nicht vor diesen Fragen kapitulieren, wie es Politikerinnen und Politiker gerne zu tun scheinen, indem sie hilflos oder manipulativ darauf hinweisen, Einzelne sollten doch bitte in die Partei eintreten oder wieder wählen gehen. Könnten CDU und SPD wirklich ein Interesse daran haben, dass die knapp acht Millionen in Deutschland, die sich in Leiharbeit, ALG-I/II-Maßnahmen und Umschulungen, Aufstockungs-Jobs oder sonstigen Randbereichen der Leistungsgesellschaft befinden, Parteien wählen, die ihre Interessen vertreten?
Diese Wahl kann notwendigerweise nicht auf bisherige Regierungsparteien entfallen und würde die größte Veränderung bundesweiter Politik, auch der Bildungspolitik, seit der Wende 1990 bedeuten.
Erwachsenenbildung als Bildung zu Austausch und Interessensdurchsetzung
Erwachsenenbildung, eine Bildung für Lebenslanges Lernen, sollte auch ein Diskussionsort sein. Wissen und besonders Kompetenz werden konstruiert, nicht nur weitergegeben. Gerade wir in der Weiterbildung Tätige, als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, müssen uns immer wieder infrage stellen (lassen). Es ist weder dumm noch ignorant, zu fragen, wieso jemand in einer Maßnahme gegen den eigenen Willen „weitergebildet“ wird, inbesondere, wenn der Trainerin wie auch den Teilnehmenden klar ist, wie unsinnig die Maßnahme (in dieser Situation) ist. Unsinnig, weil sie nicht hilft, die persönlichen Ziele zu erreichen und die Mittel dafür an die Hand zu geben. Ebenso wichtig ist die Frage, welche Einflussmöglichkeiten geschaffen werden müssen, damit auch „die Alten“, die weniger gut (formal) Gebildeten, die ohne große Fremdsprachenkompetenz und die ohne diverse Praktika rund um den Globus, ihre Interessen durchsetzen können, denn weder Parteien noch Verbände scheinen diese Menschen zu erreichen.
Ein Bestandteil davon kann etwa sein, auch jene Kompetenzen anzuerkennen, die es bislang noch nicht in Nachweise oder formale Abschlüsse geschafft haben. Im Erwachsenenbildungsbereich gibt es für die Weiterbildenden keinen gemeinsamen Standard (aber gute Ansätze), keine durch Kammern geprüfte oder zertifizierte Professionalität, die über das Selbstverständnis hinausgeht. Das Projekt EULE am Deutschen Institut für Erwachsenenbildung wird dazu ein großes Lernangebot für Weiterbildende in den kommenden Jahren anbieten. Ebenso ist im selben Haus das Projekt GRETA damit befasst, für die Anerkennung von Erwachsenenbildenden in der Lehre ein Konzept zu entwickeln.
Die Erwachsenenbildung muss sich aber auch fragen, wie es um sie selbst bestellt ist. Es verheißt nichts Gutes, wenn jüngere Erwachsene sich bei YouTube, Wikipedia, Instagram oder Reddit umfassend informieren und die Welt in ihrer virtuellen Repräsentation als wirklich nur noch einige Klicks entfernt wahrnehmen, dann aber gesellschaftlich nichts verändern (können). Sofern diese nicht wählen gehen oder sich in eine apathisch-zynische Resignation zurückziehen und Teilhabe in Form von Produktbewertungen oder wütenden Social-Media-Beiträgen verwirklichen, hat Erwachsenenbildung der Mitt-Zwanziger noch viel vor sich.
An dieser Stelle die allgemeine Frage: Wieso vermag es eine wütende Gruppe von Konsumierenden zwar, die Firmenpolitik von Apple bezüglich Upgrades zu beeinflussen, was Apple hunderte Stunden Entwicklungsarbeit kostet, aber nicht, die Firmenpolitik von Apple gegenüber dem Urheberrecht oder Arbeitsbedingungen in Taiwan/China maßgeblich zu ändern?
Oder wollen die Konsumierenden, auch aus der gebildeten Mittelschicht, die noch wählen geht, letztlich lieber ein System, das möglichst glatt funktioniert und widerspruchsfrei daherkommt, aber keines, das zu anstrengender, mühsamer, langweiliger Teilhabe nötigt, die dann vielleicht auch noch hinderlich für die eigene Karriere ist? Anders gesagt: Es kämen wohl nicht viele Leute in Luxemburg, das ein Durchschnittseinkommen von um die 90.000 Euro aufweist, auf die Idee, dass es gerade für sie schlecht läuft, trotz eines Ausländeranteils von 47 Prozent.
Welche Form sollte eine Erwachsenenbildung haben, die Einflussmöglichkeiten für alle, egal wie „bildungsfern“, eröffnet, und Horizonte für Einzelne weitet?
Welche Traditionen und Erfahrungen können aus der konfessionellen oder politischen und gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung aufgegriffen werden, die an dieser Stelle bereits gute Konzepte entwickelt haben?
Wo liegen hierbei die Herausforderungen in Ihrer beruflichen Praxis und wo können andere von Ihren Erfahrungen profitieren?