Die Digitalisierung macht auch vor dem Staat nicht halt. In ihrer ethnografischen Studie begleitet Suzanne Smythe die Besucher*innen eines gemeindefinanzierten Computercafés und ihren Kampf mit digitaler Bürokratie und diskutiert, was das digitalisierte staatliche Kontrollmechanismen für die Arbeit von Erwachsenenbildner*innen bedeutet.
Einleitung
„Die Digitalisierung durchdringt alle Lebensbereiche“ – Varianten dieses Satzes sind inzwischen so oft formuliert worden, dass er wie ein Mantra erscheint. Dabei gerät leicht aus dem Blick, dass mit den Lebensbereichen immer auch Systeme verschiedener Art und Größe verknüpft sind, die ebenso durchdrungen werden und die auf konkrete Lebensumstände oder -situationen in der ein oder anderen Weise einwirken. Susanne Smythe von der Fraser Universität in Vancouver untersuchte in einer ethnographischen Studie beispielhaft den Zusammenhang von digitalem Staat, (Grund-)Bildung und der Bildungsarbeit mit Erwachsenen.
Warum sind die Ergebnisse für die Erwachsenenbildung relevant?
Gerade sozial benachteiligte Menschen sehen sich zunehmend mit digitalisierten und damit oft entmenschlichten staatlichen Systemen konfrontiert. Für befähigende Bildungsarbeit im Sinne des Empowerment ist es wichtig, diese Anforderungen in der Grundbildung wahrzunehmen und in der Bildungsarbeit zu berücksichtigen.
Worum geht es in dieser Studie?
Vor dem theoretischen Hintergrund des Konzepts der kontrollierenden Gesellschaft (Société de contrôle) von Deleuze untersucht die Autorin, welche Art von Anforderungen der digitale Staat an Menschen stellt, welche pädagogischen Zugänge Menschen darin unterstützen sich darin zurechtzufinden und was für die Arbeit von Erwachsenenbildner*innen bedeutet (Smythe 2018, S. 197). Dazu dokumentiert sie ihre Beobachtungen in einem gemeindefinanzierten Computerzentrum und analysiert beispielhaft den Fall einer Frau, die vor kurzem ihre Arbeitsstelle verloren hatte und regelmäßig das Zentrum nutzte.
Was fand die Studie heraus?
Smythe schließt aus ihren Beobachtungen im Computerzentrum, dass der digitale Staat Verantwortung und Arbeit von der Verwaltungskraft auf sozial benachteiligte Personen und ihre gemeinnützigen Helfer*innen verschiebt, wenn es um das zur Verfügung stellen von sozialen Leistungen geht. Dabei können Systeme, die Anträge oder Nachweise auf Basis automatischer Prüfung (z.B. anhand von Schlüsselwörtern oder Rechtschreibprüfungen) zurückweisen, beträchtliche Hürden darstellen, insbesondere für Menschen mit geringer Schreibkompetenz. Damit gerät die Eingabe von Daten in diese Systeme zu einer potenziell riskanten Handlung mit realen Konsequenzen für das eigene Leben. Smythe argumentiert, dass in solchen Fällen experimentelles oder autodidaktisches Lernen ungeeignet, ja unverantwortlich wären. Andererseits darf die Intervention durch die pädagogische Fachkraft nicht zu intensiv sein, damit Lerngelegenheiten entstehen können und die Erwachsenenbildner*in nicht in Gefahr laufen, sich selbst zum Teil automatisierter Kontrollmechanismen des digitalen Staates zu machen (S. 209-210).
Wie schätze ich die Studie ein?
Die Studie von Smythe verfolgt mit ihrer qualitativ ethnografischen Vorgehensweise einen radikal anderen Ansatz als den der oft viel stärker wahrgenommenen Studien, in denen Zahlen und Messwerte im Mittelpunkt stehen. Studien dieser Art dienen dem Zweck, Theorien zu generieren, die später durch breiter angelegte Studien überprüft werden. Ihr Wert für Erwachsenenbildner*innen liegt darin, dass diese Art von Studien oft Impulse geben, das eigene Handeln und eigene Einstellungen zu reflektieren. Smythe kommt der Wirklichkeit des Bildungsalltags mit sozial benachteiligten Menschen außerhalb formaler Bildungsorte sehr nahe. Ihre szenische Fallbeschreibung, obwohl in Kanada entstanden, ist in ähnlicher Form auch hierzulande Realität. Ihre Argumentation ist schlüssig und ruft dem Lesenden in Erinnerung, dass die schöne digitale Welt für sozial benachteiligte Menschen auch eine Bürde oder Bedrohung darstellen kann.
Wo finde ich den Originaltext zum Nachlesen?
Der Aufsatz ist in der Adult Education Quarterly erschienen und leider nur gegen Bezahlung verfügbar. Immer mehr Forschende machen jedoch von ihrem Wiederveröffentlichungsrecht Gebrauch und stellen ihre Artikel auf Anfrage zur Verfügung. Die Autorin kann über die Webseite der Simon Fraser University kontaktiert werden.
CC BY-SA 3.0 DE by Jan Koschorreck für wb-web (16.12.2020), letztmalig geprüft am 07.03.2024