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Wie kann ehrenamtlicher Deutschunterricht traumatisierten Flüchtlingen helfen?
wb-web: Haben ehrenamtliche Sprachbegleiter andere Aufgaben und Möglichkeiten, als Leiter offizieller Kurse?
Fischer: Ich denke ja! Obwohl es zunächst natürlich zielführend ist, Themen aufzugreifen, die in Kursen gerade dran sind, ist man als Ehrenamtlicher viel freier in dem, was man anbietet oder aufkommen lässt. Wir üben viel von dem, was in den Kursen vorkommt, darum sagen wir auch „Übungs- und Förderunterricht“. Wir lesen laut oder schreiben kleine Diktate, damit die Fähigkeitsbildung im Schriftlichen und im Textverständnis unterstützt wird. Dazu verfassen wir viele Texte selbst, die einen Anstoß geben können für ein interessantes Gespräch in der Gruppe. Auch brisanten oder heiklen Themen geben wir Raum, z.B. den Wahlen, dem Schwarzfahren, Zwangsheirat, oder Ängste hier, Ängste bei ihnen…Das schafft Boden für Vertrauen der Schüler untereinander und für die Gesprächsoffenheit zu uns. Für viele – so mein Eindruck – ist ein „Beziehungsangebot“ wichtiger, als ein neuer Lerninhalt. Der Sprachunterricht ist bei uns oft nur das Sprungbrett für Unterstützung auf ganz anderen Feldern. Diese Freiheit hat man als Ehrenamtlicher!
wb-web: Können Sie ein Beispiel schildern?
Fischer: Bei einem Burschen habe ich bemerkt, dass er immer wieder den Kopf seltsam verdrehte, wenn er etwas nicht gut verstand. Leider dauerte es eine Weile, bis mir klar wurde, dass er auf dem rechten Ohr er taub ist. Im Heim und bei Deutschkursen geht so etwas leicht unter. Ein privater, ehrenamtlicher Rahmen kann vielen Fragen, Bedürfnissen, Nöten viel eher Raum geben. Jede gute, verlässliche, vertrauensvolle Beziehung wirkt therapeutisch !
Und das ist kein spezifisches Flüchtlingsproblem, da sind wir Menschen doch alle gleich! Aber in deren Lebenssituation bekommt Mitmenschlichkeit einen extrem erhöhten Stellenwert. Dazu muss man aber kein „Therapeut“ sein oder weiß Gott was für eine Ausbildung haben. Als ehrenamtlicher Lehrer stellt man ja zunächst einfach Fähigkeiten zur Verfügung, die man hat. Das ist schon ein sehr segensvolles Angebot. Und man hat Zeit für Gespräche. Da es oft an allem fehlt, was wir hier oft so selbstverständlich haben, gibt es viel Potenzial, um Türen aufzumachen!
Mein Engagement für Flüchtlinge ist natürlich auch oft anstrengend. Aber ich finde, das macht nichts. Ich empfinde meine Tätigkeit als Win-Win-Situation.
wb-web: Wo liegen die Grenzen? In welchem Fall muss ein ehrenamtlicher Sprachbegleiter professionelle Hilfe beiziehen? Wo?
Fischer: Wenn ein Flüchtling regelmäßig zum Unterricht kommt, sollte man eine kleine Kartei anlegen mit Name, Geburtsdatum, Quartier, Asyl-Status, bisherige Sprachkurse. Außerdem mit Name und Telefonnummer vom Regionalbetreuer oder der Bezugsperson zum Beispiel bei der Caritas. Die Betreuer sollten von der Tätigkeit der Ehrenamtlichen wissen. Sie stützen sie oft sehr und manches Heim macht gerne kleine Feste oder Ausflüge, zu denen der Umkreis eingeladen wird. Für alle Beteiligten ist es hilfreich, wenn eine Vernetzung entsteht, nicht erst bei Problemen!
Bei Sorgen, Auffälligkeiten, Gefährdungen würde ich mich zunächst ans Heim oder an den Betreuer wenden. Außerdem gibt es in jeder Stadt psycho-soziale Dienste, (auch für den "Eigenbedarf"), die je nach Problem weitervermitteln. Für Notfälle: Psychiatrische Ambulanz!
Obwohl alle Flüchtlinge einen schweren "Rucksack" tragen, gibt es aber fast keine Akutprobleme. Auch die obengenannten Symptome treten - durch die persönliche Zuwendung - nur gemildert auf. Trotzdem: Auch wenn seine Arbeit "therapeutisch" wirkt, sollte ein ehrenamtlicher Lehrer kein Therapeut werden wollen und sich, wenn nötig, Hilfe holen.
wb-web: Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Worin sehen Sie Entwicklung und Entwicklungsbedarf?
Fischer: Wenn ich mich frage, was mir guttut, dann ist es der Austausch mit anderen, die ähnlich arbeiten, die ähnliche Fragen, Nöte und Glücksmomente durchleben. Das sind Menschen, die nicht mit einfachen Antworten und Regeln zufrieden sind.
In einem Buch, das ich sehr schätze („Flucht und Trauma“ von Udo Baer und Gabriele Frick-Baer) gibt es ein Kapitel über das große UND: Es ist das Kapitel über die großen Widersprüchlichkeiten. Zum Beispiel dass viele Helfende sehr engagiert sind UND gleichzeitig erschöpft. Sie mögen die Flüchtlinge UND sie ärgern sich über manche Verhaltensweisen… Das Aushalten-Lernen vom UND, das heisst von „vereinbaren Gegensätzen“, ist bei dieser Art Arbeit unabdingbar! Der Austausch darüber ist aufbauend und ausbaufähig!
Ich glaube auch, dass eine effektivere Vernetzung unter den Ehrenamtlichen, aber auch mit der Caritas, der Diakonie, den vielen anderen helfenden Gruppierungen nottut. Vieles läuft nebeneinander her und stützt sich nicht recht untereinander. Dennoch: die Zivilgesellschaft ist eine ganz große Kraft! Täglich kann man freie Initiativen einzelner Menschen entdecken! Das ist begeisternd und sehr motivierend!
Empfohlene Literatur zur Vertiefung
Baer, U. & Frick Baer, G. (2016). Flucht und Trauma: Wie wir traumatisierten Flüchtlingen wirksam helfen können. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
UNHCR (2016). Flucht und Trauma im Kontext Schule, Handbuch für PädagogInnen (2016). Wien: UNHCR Österreich.
Ruf, B. (2012). Trümmer und Traumata: Anthroposophische Grundlagen notfallpädagogischer Einsätze. Arlesheim: Ita Wegmann Institut.
Frankl, V. (1946). … trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. 8. Auflage. München: Kösel Verlag .
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