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Offene Bildungsmaterialien: Norwegens beispielhafte OER-Förderung

Das Bild zeigt einen Stapel aufgeschlagener Bücher.

Foto:  Pixnio.com, CC0

In Norwegen fließt seit über zehn Jahren ein Teil der öffentlichen Ausgaben in die Produktion und Verbreitung offener Bildungsmaterialien. Im Interview erklärt der Erziehungswissenschaftler Frank J. Müller, was wir hierzulande vom norwegischen Modell lernen können.

Die „Nationale Digitale Lernarena“, kurz NDLA, sorgt Norwegen seit über zehn Jahren dafür, dass ein Teil der öffentlichen Ausgaben für Lehrmittel dafür verwendet wird, offene Bildungsmaterialien (OEROpen Educational Resources) zu produzieren und zu verbreiten. Diese beispielhafte OER-Förderung ist gesetzlich geregelt.

Die NDLA ein Gemeinschaftsprojekt von 18 norwegischen Provinzen. Der Erziehungswissenschaftler Frank J. Müller hat das Erfolgsprojekt vor Ort untersucht und einen Bericht darüber geschrieben. Wir fragten ihn, was Bildungspolitiker*innen, Schulbuchverlage und die OER-Community vom norwegischen Modell lernen können.

iRights.info: Was hat Sie an der NDLA besonders interessiert?

Frank J. Müller: Das Besondere an der NDLA ist, dass wir durch die Arbeit des norwegischen Teams über umfangreiche Erfahrungen mit einer staatlich finanzierten, groß angelegten OER-Plattform verfügen, die nunmehr 13 Jahre lang besteht. Darauf können OER-Akteur*innen hier aufbauen – sowohl was die entstandenen freien Inhalte und die genutzte freie Software als auch was die entwickelten Strukturen und Vorgehensweisen der NDLA betrifft.

Auch rechtliche Fragen wurden geklärt. Die gescheiterten Klagen der norwegischen Schulbuchverlage vor dem europäischen Freihandelsgerichtshof EFTA haben gezeigt: Wenn Länder die Gesetze entsprechend formulieren, stellt die staatliche Finanzierung einer solchen OER-Plattform keine unzulässige Beihilfe dar. Und mit der Software H5P hat die NDLA ein neues offenes Format für interaktive Bildungsinhalte geschaffen, das weltweit genutzt und gemeinschaftlich weiter entwickelt wird.

Frank J. Müller ist Professor für Inklusive Pädagogik, Geistige Entwicklung und Lernen an der Universität Bremen

Frank J. Müller ist Professor für Inklusive Pädagogik, Geistige Entwicklung und Lernen an der Universität Bremen. Foto: Stefan Müller CC-BY

iRights.info: Sie erwähnten die norwegischen Schulbuchverlage. Was lässt sich aus deren Verhalten für deutsche Schulbuchverlage beziehungsweise den Umgang mit ihnen ableiten?

Frank J. Müller: Der Großteil der Mittel von NDLA, etwa 70 Prozent, wird über offene Ausschreibungen wieder an den Markt gegeben. Das bedeutet, dass 94 Prozent des vorhandenen Schulbuchetats weiter dem Markt zur Verfügung stehen. Die norwegischen Schulbuchverlage verweigerten sich jedoch der Kooperation, so dass ein neuer Markt entstand.

Wichtig ist für deutsche Einrichtungen, nicht zu versuchen, alle Inhalte selbst zu erstellen, sondern über Ausschreibungen den Markt zu beteiligen. Um rechtliche Probleme mit den zum Teil europaweiten Ausschreibungen zu vermeiden, ist hier eine möglichst frühe Professionalisierung erforderlich.

iRights.info: Was können Bund und Länder sowie die OER-Community noch aus den NDLA-Erfahrungen lernen?

Frank J. Müller: An der Initiative beteiligen sich 18 der 19 norwegischen Bundesländer – außer Oslo, wo die Schulbuchverlage ihren Sitz haben. Und es hat sich gezeigt, dass man gemeinsam weiter kommt als alleine. Das heißt, es wäre wünschenswert, dass mehrere oder gar alle Bundesländer gemeinsam vorgehen.

Würden in Deutschland 20 Prozent des Schulbuchetats in OER investiert, wären das 60 Millionen Euro pro Jahr. Damit ließe sich schon einiges bewirken. Aber selbst wenn nur ein Euro pro Schüler*in pro Fach investiert würde, würde das eine gute Grundlage bilden.

Statt sich weiter hinter Plattformen für jedes Bundesland zu verstecken, die für Lehrkräfte außerhalb nicht zugänglich sind, wäre es wichtig, auf freien Zugang für alle und durchgängige freie Lizenzen zu setzen, also CC Zero oder CC BY.

Die Lernmaterialien der NDLA sind ohne Passwort weltweit zugänglich. Einzig das Filmarchiv ist mit Geoblocking versehen. Wenn wir uns wünschen, dass Menschen weltweit gemeinsam an freien Bildungsmaterialien arbeiten sollen, dann sind länderspezifische, geschlossene Plattformen der falsche Weg.

Die NDLA

Die NDLA (Nationale Digitale Lernarena; norwegisch: Nasjonal digital læringsarena) ist ein 2006 gegründetes, gemeinsames Vorhaben von 18 norwegischen Provinzen (vergleichbar mit deutschen Bundesländern). Auftrag und Ziel der NDLA ist, den Zugang zu Bildung zu erleichtern.

Seit 2008 vergibt die NDLA zum einen zweckgebundene Finanzmittel an staatliche und private Produzenten von Bildungsmaterialien, unter der Auflage, diese als frei lizenzierte und kostenlose Open Educational Resources (OER) zur Verfügung zu stellen. Zum anderen stellt sie eine Vertriebsplattform für OER sowie zahlreiche Online-Werkzeuge für Austausch und Kooperation zur Verfügung. Nach einer Anschubfinanzierung des norwegischen Ministerium für Bildung und Forschung trägt sich die NDLA durch Mittel aller beteiligten Provinzen.

Mittlerweile ist über die NDLA-Plattform umfangreiches Fachmaterial für rund 40 Lehrpläne und 60 Fachbereiche der Sekundarstufe II als kostenlose OER erhältlich. Zudem setzt die Lernarena auf Open-Source-Software und entwickelte die Produktionsumgebung H5P, die auch als offenes Format für interaktive Bildungsinhalte bekannt ist.

Eine Besonderheit ist zudem, dass die NDLA keine eigenen Mitarbeiter hat, sondern die Zusammenarbeit öffentlich Bediensteter mit der Privatwirtschaft koordiniert. Mehrere Teams sind für Materialentwicklung, technische Entwicklung, Anwendungsmanagement, Content-Management und weiteres zuständig. Die Zahl der Zugriffe auf die NDLA-Plattform stieg laut Wikipedia bisher jährlich an, 2017 waren es über 12 Millionen pro Jahr.

iRights.info: Der Ruf nach einer Mega-OER-Plattform für alles und alle ist aber durchaus umstritten …

Frank J. Müller: Wichtig ist aus meiner Sicht, nicht Unmengen an Geld in unterschiedliche neue Plattformen zu stecken, sondern auf der mehrsprachigen Plattform von NDLA aufzubauen, die als Open Source verfügbar ist. Dieses System bietet Lehrkräften die Möglichkeit, ihren Schüler*innen Lerninhalte differenzierter Form über individualisierte Lernpfade zur Verfügung zu stellen. Dabei verzichtet die NDLA darauf, Schüler*innen-Daten zu speichern – was hilfreiche Big-Data-Analysen, die Hinweise auf Lernprozesse geben, nicht ausschließt.

Die Aufgabenformate innerhalb von NDLA sind so konzipiert, dass sie eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gegenstand ermöglichen. Schüler*innen können gemeinsam mit Mitschüler*innen daran arbeiten und den digitalen Raum verlassen. Sie beschränken also nicht auf Point-and-Click und ein Abarbeiten der Lernpfade im Sinne einer „programmierten Unterweisung“.

Mehr Offenheit bedeutet auch mehr Inklusion

iRights.info: Im Titel Ihrer Publikation fragen Sie, ob die NDLA einen „Weg zu mehr Inklusion“ darstellt? Wie würden Sie die Frage beantworten?

Frank J. Müller: Offene Lernmaterialien bieten den Lehrkräften die Möglichkeit, Inhalte an die Bedürfnisse der Schüler*innen anzupassen und die so veränderten Materialien mit anderen zu teilen. Das ist schon einmal eine Chance für Inklusion. Dabei ist es hilfreich, wenn die Ersteller*innen von offenen Lernmaterialien, die Vielfalt der Schüler*innen und der Lehrkräfte bereits bei der Konzeption im Blick behalten, beispielsweise über Personas …

iRights.info: … also das Modellieren typischer Nutzer*innen mitsamt konkreten Eigenschaften und Kenntnissen.

Frank J. Müller: Ja, genau. Momentan steckt OER für den Schulbereich in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Gleichwohl wäre es fatal, größere Summen in die Digitalisierung zu investieren und die Inklusion nicht zu berücksichtigen.

Eine offene Infrastruktur für Bildungsinhalte und vollständig offene Inhalte, die sich an der Vielfalt der Schüler*innen orientieren, schaffen eine bislang nicht vorhandene Nachhaltigkeit für das von den Steuerzahler*innen aufgebrachte, investierte Geld. Und davon könnten und sollten alle Schüler*innen unabhängig von Beeinträchtigungen, kulturellen und sozialen Hintergründen, Geschlecht und sexueller Orientierung profitieren.

iRights.info: Was wird die NDLA Ihrer Auffassung nach in den nächsten Jahren noch erreichen?

Frank J. Müller: Die NDLA fokussiert sich in ihrer Entwicklung auf die Schüler*innen und ihre Bedürfnisse. Diesen Weg weiterzugehen und beispielsweise Curricula für Schüler*innen verständlich abzubilden und fächerübergreifendes Lernen zu ermöglichen, ist eine der Herausforderungen, der sie sich stellen möchte.

Die NDLA hat lange Jahre mit dem Content Management System Drupal gearbeitet. Auf Grundlage der Erfahrungen damit entwickelten sie ein neues System, das sie auch unter freier Lizenz zur Verfügung gestellt haben. Diese neuentwickelte Lernplattform und der Umzug der bisherigen Materialien dorthin wird die NDLA in den kommenden Jahren beschäftigen.

Die Weiterentwicklung der neuen Plattform basierend auf dem Feedback der Nutzer*innen ist ebenso spannend wie die neuen Inhalte, die entwickelt werden können. Dadurch dass weniger Geld für das CMS aufgebracht werden muss, steht ihnen mehr Etat für die Content-Entwicklung zur Verfügung.

Der Forschungsbericht

Cover des Forschungsberichts

Müller, Frank J.: Chancen und Herausforderungen staatlich finanzierter, frei verfügbarer Bildungsmaterialien (OER) am Beispiel der Plattform ndla.no in Norwegen. Ein Weg zu mehr Inklusion? Hamburg : Verlag ZLL21 e.V. 2019

Während eines mehrmonatigen Forschungsaufenthaltes in Norwegen beschäftigte sich Frank J. Müller intensiv mit der Arbeit, den Besonderheiten und der Bilanz der NDLA. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen und ausführlichen Interviews mit Akteur*innen und Mitarbeitenden der NDLA flossen in eine umfangreiche Analyse. Sie erschien kürzlich unter dem Titel „Chancen und Herausforderungen staatlich finanzierter, frei verfügbarer Bildungsmaterialien (OER) am Beispiel der Plattform ndla.no in Norwegen. Ein Weg zu mehr Inklusion?

Der Forschungsbericht ist frei als PDF sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch verfügbar, jeweils offen lizenziert unter CC BY.

Quelle:

Das Interview führte iRights.info und stellt es unter CC BY 2.0 zur Verfügung.
 


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