Peter Brandt Forschung quergelesen

Vomfragwürdigen Nutzen des Kooperierens

Moderne digitale Medien scheinen für Kooperationen jenseits von Zeitzonen und Kontinenten wie gemacht. Social Media Tools machen die Zusammenarbeit vieler möglich. Doch das als „Mitmachnetz“ propagierte Web 2.0 wird tatsächlich von weit mehr Personen passiv als aktiv genutzt. Beispielsweise ist von den Millionen Nutzern von Wikipedia nur ein geringer Anteil kooperativ an der Erstellung der Texte beteiligt. Vergleichbare Phänomene beobachten Wissenschaftler auch in computergestützten Lernumgebungen.

Zeichnung mit Menschen in Gruppen

Kooperation ist Grundlage von Wissensaustausch. (Bild: geralt, CC 0)

„Die Mehrheit der am computervermittelten Wissensaustausch beteiligten Nutzer sind ‚Lurker‘, die Inhalte des Pools rezipieren und nutzen, aber kaum jemals eigene Beiträge leisten“, schreiben U. Cress und J. Kimmerle (Computervermittelter Wissensaustausch als Soziales Dilemma: Ein Überblick. In: Zeitschrift für Pädagogische Psychologie H. 1–2/2013, S. 9–26, hier: S. 10). Sie diskutieren im zitierten Beitrag die mangelnde Beteiligung als Ausdruck des Dilemmas, Wissen zu teilen oder nicht. Sie berichten über Labor- und Online-Experimente, in denen beobachtet wurde, unter welchen Bedingungen wie viel Wissen in einer Community geteilt wurde. Eingebettet waren diese Experimente in theoretische Überlegungen zum Wissensaustausch aus sozial- und pädagogisch-psychologischer Sicht.

Soziales Dilemma

„Aus verhaltensökonomischer Sicht stellt der Aufbau eines gemeinsamen Wissenspools [...] ein Soziales Dilemma [...] dar. Die Entscheidung, ob ein Nutzer Informationen an andere weitergibt, lässt eine Situation entstehen, in der die Interessen der Gruppe als Ganzes (!) mit den Interessen der Individuen konfligieren“ (ebd., S. 12) Denn wer viel einspeist, verliert Zeit und Wissensvorsprung, wer hingegen wenig einspeist, profitiert relativ mehr vom Wissen der anderen. Gleichzeitig hat die Community als Ganze den größten pay-off, wenn alle Mitglieder maximal kooperieren. Die Experimente zeigen, dass die Versuchspersonen dieses Dilemma wahrnahmen und in seinen Auswirkungen sogar als gravierender einschätzten, als es war (vgl. ebd., S. 15). Im Blick auf diese und andere Studien halten die Autoren fest: »Tendenziell verhalten sich Personen im Informationsaustausch-Dilemma rational. Sie berücksichtigen die eigenen Kosten ihrer Handlungen genauso wie den eigenen Nutzen und den Nutzen anderer. [...] Wenn ein höherer Nutzen für andere durch höhere eigene Kosten bezahlt werden muss, verhalten sich Personen eher gemäß den eigenen Interessen als gemäß den Interessen anderer, was der dominanten Strategie im Sozialen Dilemma entspricht. Allerdings hat diese Rationalität Grenzen« (ebd., S. 19f.). Die Autoren empfehlen, zur Lösung des Dilemmas weniger strukturelle Faktoren zu bearbeiten, sondern psychologische Faktoren zu beeinflussen. Hierzu können (vgl. ebd., S. 20) Normen des Systems aktiv kommuniziert, kooperatives Verhalten einzelner Personen besonders transparent gemacht oder die persönliche Identifizierbarkeit verstärkt werden, denn diese bedient Tendenzen zur Selbstdarstellung und trägt dazu bei, dass Personen aufgrund ihrer Beiträge als Experten Reputationsgewinne erzielen. Anonymität verstärkt offenbar das Zurückhalten von Informationen und damit das »soziale Faulenzen« (ebd., S. 12) in Communities.

Kooperativ oder individuell?

Während Kooperation in Communities wie beschrieben wenigstens auf die Allgemeinheit bezogen Nutzen stiftet und nur subjektiv mit zu hohen Kosten verbunden sein kann, erzielt Kooperation im folgenden Setting nicht einmal für die Nutzer wünschenswerte Effekte: Forscher der Universität Kiel haben in einem quasiexperimentellen Design überprüft, ob kooperatives Lehren individueller Lehre überlegen ist. Sie ließen 164 Lehramtsstudierende vor Oberstufenschülern Referate halten, 60 individuell, der Rest in Zweiergruppen (Schwartz, K. u.a.: Will kooperieren gelernt sein? Ein Quasi-Experiment im Lehramtsstudium. In: Zeitschrift für Pädagogische Psychologie H. 4/2012, S. 263–273). Dabei gingen sie von der theoretischen Annahme aus, dass durch kooperative Vorbereitung und Präsentation »Referate entstehen können, die besser bewertet werden sowie zu einer besseren Lernleistung und Motivation von Zuhörenden führen als einzeln vorbereitete und präsentierte Referate« (ebd., S. 266). Im Ergebnis zeigte sich, dass unerfahrene Lehrkräfte bei kooperativem Lehrhandeln sogar schlechter abschnitten als bei individuellem; bei Studierenden in fortgeschrittenen Semestern hielten sich die Bewertungen beider Lehrformen die Waage. Die Verfasser des zitierten Beitrags weisen ausdrücklich auf die begrenzte Aussagekraft ihrer Untersuchung hin (vgl. ebd., S. 271). Gleichwohl geben sie den wichtigen Hinweis, dass der Kooperation nicht vorschnell positive Effekte unterstellt werden dürfen und auch das Kooperieren gelernt sein will.