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Eigene Fähigkeiten erkennen – fremde Kultur kennenlernen

Der ProfilPASS für junge Menschen - Cover

Der ProfilPASS in der Beratung von geflüchteten Jugendlichen - Wenn es um die Unterstützung von Schülerinnen und Schülern bei ihrer Berufswahl geht, orientieren sich Schulen längst nicht mehr ausschließlich an schulischen Leistungen. Im Kontext ihrer Berufsorientierung nutzen die meisten weiterführenden Schulen inzwischen ganzheitlich ausgerichtete Kompetenzfeststellungsverfahren.  

Der ProfilPASS für junge Menschen ist ein biografisches Verfahren, das bundesweit an vielen Schulen eingesetzt wird. Durch seinen ressourcenorientierten Ansatz und die Berücksichtigung von Fähigkeiten, die in der Freizeit und innerhalb der Familie erworben wurden, ist der ProfilPASS ein wertvolles Instrument gerade auch für Schülerinnen und Schüler, die in den letzten Jahren nach Deutschland geflüchtet sind.

An der staatlichen Berufsschule Ostallgäu wird der ProfilPASS seit Herbst 2016 in Integrationsklassen eingesetzt. Verena Kiupel hat in diesem Modellprojekt als erste ProfilPASS-Beraterin 40 geflüchtete junge Menschen im Alter von 17 bis 24 Jahren ein Schuljahr begleitet. Im Gespräch mit Katrin Hülsmann (DIE) berichtet sie von ihren Erfahrungen.

 Katrin Hülsmann (KH): Im Schuljahr 2016/2017 haben Sie zum ersten Mal geflüchtete junge Menschen mit dem ProfilPASS für junge Menschen beraten. Welche Erfahrungen haben Sie bei der Beratung mit den geflüchteten Jugendlichen gemacht?

Verena Kiupel (VK): Ich habe sehr gute Erfahrungen gemacht. Am Anfang waren die Jugendlichen skeptisch. Als sie gemerkt haben, dass ich sie ernst nehme und ihnen wirklich helfen möchte, einen guten Weg zu finden, sind die Vorbehalte verschwunden. Die Jugendlichen haben erkannt, dass ich Ihnen nichts überstülpen will. Das hat eine große Offenheit bei ihnen bewirkt und die Basis geschaffen, dass wir gut miteinander arbeiten konnten. Ich habe sehr viel Wert auf eine Atmosphäre gelegt, in der sich die Schüler/innen gegenseitig respektieren und wertschätzend miteinander umgehen. Diese Haltung kam sehr stark von mir, das mussten die Schülerinnen und Schüler erst einmal lernen.

KH: Wie haben Sie diese Haltung vermittelt?

VK: Ich habe sehr darauf geachtet, dass niemand ausgelacht oder bloßgestellt wurde. Wenn es ein Problem gab, haben wir gemeinsam geschaut‚ wie wir mit diesem Problem umgehen können und wie eine gute Lösung aussehen könnte. Für die Schüler/innen war die Erfahrung wichtig, dass es bei mir keine Sanktion gibt, sondern immer ein Hilfsangebot, wie sie besser mit einer bestimmten Situation oder auch mit ihrer Persönlichkeit zurechtkommen können. 

KH: Im Mittelpunkt der ProfilPASS-Arbeit steht die Selbstreflexion. Wie ist es Ihnen gelungen, diesen Prozess der Selbsterkenntnis zu initiieren und konkret umzusetzen?

VK: Ich denke, der erste Schritt war, den Schülerinnen und Schülern beizubringen, ehrlich über sich selbst nachzudenken und die eigenen Gedanken auch in der Gruppe zu äußern, ohne dabei das Gesicht zu verlieren. Dieses „Sich-Selbst-Reflektieren-Können“ war zu Beginn noch nicht so persönlich, sondern lief über die Praktikumsreflexion. Es ging zunächst darum, eine ehrliche Antwort darauf zu finden, wie den Jugendlichen ihr Praktikum gefallen hat. Wichtig war mir, dass sie lernen, genau zu unterscheiden, zum Beispiel „War es die Arbeit, die mir nicht gefallen hat oder waren es die Kolleginnen und Kollegen, die schwierig waren?“ Und dann habe ich die Aufmerksamkeit immer wieder auf die positiven Erfahrungen und die Ressourcen der Jugendlichen gelenkt: „Was konnte ich in das Praktikum einbringen?“ „Welche Fähigkeiten habe ich schon, die für diesen Beruf wichtig sind?“

KH: Was war für Sie die größte Herausforderung bei diesem Prozess?

VK: Wenn wir über bestimmte Probleme beim Praktikum gesprochen haben, musste ich den Jugendlichen sehr viel erklären, zum Beispiel wie man in unserem Land mit solchen Problemen umgeht. Das war die allergrößte Herausforderung. Grundsätzlich musste ich viel erklären, was man bei uns tut und warum man es tut. Das kritische Reflektieren war den Jugendlichen, insbesondere den unter 18jährigen, nicht geläufig.

KH: Der ProfilPASS für junge Menschen enthält viele Seiten mit vorgegebenen Aktivitäten aus den Bereichen Freizeit, Schule und Familie. Diese Beispiele stammen aus unserem Kulturkreis. Konnten sich die geflüchteten Jugendlichen mit diesen Aktivitäten identifizieren? Wie sind Sie mit diesen Seiten im ProfilPASS umgegangen?

VK: Ich habe diese Seiten genutzt, um den Jugendlichen unsere deutsche Kultur nahezubringen. Ich habe zum Beispiel erklärt, welche Hobbys Jugendliche in Deutschland haben und auch, warum Jugendliche diese Hobbys haben. Für viele Jugendliche war neu, dass in Deutschland Sportarten vielfach in Vereinen ausgeübt werden. Im Gespräch über Vereine habe ich die Jugendlichen auch ermuntert, in einen Verein zu gehen, nicht nur um Sport zu machen, sondern auch, um neue Menschen kennen zu lernen. Das Thema „Freizeit“ eignete sich zudem sehr gut dafür, gemeinsam herauszufinden, welchen Stellenwert Freizeitaktivitäten in unterschiedlichen Ländern haben.

KH: Waren die Jugendlichen sprachlich in der Lage, ihre Gedanken differenziert auszudrücken?

VK: Ich war überrascht wie gut die Schülerinnen und Schüler deutsch gesprochen haben. Am Anfang haben sie sich auf einem Sprachniveau zwischen A2 und B1 bewegt. Sie haben eine einfache Sprache meistens gut bis sehr gut verstanden. Bei Sprachproblemen haben sich die Jugendlichen entweder gegenseitig unterstützt oder sie haben Übersetzungsprogramme von ihrem Handy genutzt. Diese waren bewusst Teil des Unterrichts. Bei Schülerinnen und Schülern, die sprachlich schwächer waren, habe ich besonders nachgefragt, ob sie wirklich verstanden haben worum es gerade geht. Als es um die Beschreibung der eigenen Persönlichkeit ging, habe ich den Jugendlichen gezielt Wörter beigebracht, mit denen sie ihre Fähigkeiten und Eigenschaften benennen können. Ganz konkret hat jeder Schüler bzw. jede Schülerin eine eigene Vokabelliste angelegt. 

KH: Neben dem ProfilPASS haben Sie viele bildhafte Methoden ergänzend eingesetzt, um die Jugendlichen auf die Berufswahl vorzubereiten. Wie haben Sie das konkret gemacht? 

VK: Ja, ich habe sehr viel mit Bildern und Vergleichen gearbeitet. Das Thema „Ausbildungsplatz“ habe ich beispielsweise mit Hilfe einer mit Bonbons gefüllten Schüssel erklärt. Ich habe die Schüssel im Kursraum aufgestellt und erklärt, dass die Bonbons sinnbildlich für die Ausbildungsplätze stehen, die am Anfang des Schuljahres vorhanden sind. Bis zum Schuljahresende würden dieses Bonbons unter allen Schüler/inne/n, auch den deutschen, verteilt. Immer wenn wir im Laufe des Kurses auf das Thema „Verteilung der Ausbildungsplätze“ gekommen sind, habe ich den Schülerinnen und Schülern gezeigt, dass ein Teil der Bonbons/Ausbildungsplätze bereits gegessen/vergeben ist und dass sie nur noch auf das zurückgreifen können, was in der Schüssel übrig ist. Dadurch, dass am Schuljahresende nur noch wenige Bonbons in der Schüssel waren, haben sie verstanden, dass sie sich frühzeitig um einen Ausbildungsplatz kümmern müssen.

KH: Der erste Durchgang des Pilotprojekts ist mittlerweile abgeschlossen. Wenn Sie zurückblicken: Was ist das Wichtigste, was sie den geflüchteten jungen Menschen in dem Schuljahr mit auf den Weg geben konnten?

VK: Ich glaube, die Schülerinnen und Schüler haben am meisten geschätzt, dass sie eine Vertrauensperson hatten, die sie ernst genommen hat. Ich hatte den großen Vorteil, dass ich nichts erreichen musste, d.h. sehr frei im Umgang mit ihnen sein konnte. Sie kamen zum Beispiel mit vielen Fragen zu mir, die nichts mit dem ProfilPASS-Workshop zu tun hatten. Ich konnte mir auch die Zeit nehmen, den Jugendlichen die formalen Prozesse rund um die Themen Schule, Ausbildung und Beruf zu erklären. Und neben den Formalien natürlich auch immer wieder die kulturellen Besonderheiten. Die konkrete Beschäftigung mit dem ProfilPASS hat bewirkt, dass die Jugendlichen sich ihrer Einzigartigkeit bewusst geworden sind. Sie haben erkannt, dass jeder anders ist und dass sie nicht nur die „geflüchteten Jugendlichen“ sind. Die Erfahrung, dass ihre persönlichen Eigenschaften und Kompetenzen wertgeschätzt werden, hat die Jugendlichen in der Folge stark motiviert, sich mit ihrer beruflichen Orientierung auseinanderzusetzen.

KH: Wenn Sie auf sich selbst schauen: Was ist das Wichtigste, was Sie in diesem Schuljahr gelernt haben?

VK: Ich bin unglaublich bereichert aus dieser Arbeit herausgegangen. Den größten Gewinn, den ich aus dem Projekt gezogen habe ist, dass ich freier geworden bin im Umgang mit geflüchteten Menschen oder generell mit Menschen aus anderen Kulturen. Das kommt mir heute zugute.

KH: Gibt es zum Schluss noch etwas, das Sie gerne aus dem Kurs berichten möchten? Vielleicht eine Situation oder Begebenheit, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

VK: Mir hat es sehr viel Spaß gemacht, den Jugendlichen deutsche Kultur zu erklären. Immer wieder haben wir gemeinsam über so manche Merkwürdigkeiten von uns Deutschen gelacht. Wir hatten eine sehr lockere Atmosphäre im Kurs. Es ist gut, über sich selber lachen zu können und ich kann gut verstehen, warum die Schülerinnen und Schüler manchmal Probleme mit dem System haben, in das sie hineingekommen sind.

 

CC-BY-SA by Katrin Hülsmann für wb-web


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