Digitale Kommunikationstechnologien als Bildungschance für Flüchtende – „So wichtig wie Wasser“ - So bezeichnet ein Flüchtling die Bedeutung des Smartphones für Flüchtlinge (St. George 2017). Und genau daran nahm eine etwas ältere Frau in einem Interview im deutschen Fernsehen Anstoß. Unbegreiflich und unanständig schien ihr, dass die erste Frage vieler Flüchtlinge bei ihrer Ankunft nicht nach Wasser, sondern nach einem Ladegerät war. Die Rolle des Smartphones vor, während und nach der Flucht ist inzwischen international untersucht. Auch sein Lernpotential wird zunehmend erkannt und ansatzweise genutzt.
Die digitale Kompetenz vieler Flüchtlinge, die unabhängig vom Bildungsniveau zu sein scheint (Emmer et al., 2016: 24), bietet sicherlich innovative und flexible Zugangsmöglichkeiten zur Bildung. Damit aber das Lernpotential der mobilen digitalen Infrastruktur −Smartphone, Internet, Apps, soziale Medien – von den anvisierten Adressaten und Adressatinnen erkannt und genutzt wird, muss man die Rolle und Nutzungsgewohnheiten seitens der Flüchtlinge verstehen.
“We, the exiled ones, who live on antidepressants, Facebook
has become our homeland. It opens the sky they close
in our faces at the frontiers.”
(Maram Als-Masri, in Paris lebende Syrische Dichterin, 2017: 35, englische Übersetzung aus dem Arabischen zitiert von Gallespie 2018: 1)
Flüchtlinge sind keine homogene und stabile Gruppe von Menschen. Auch ihr Umgang mit und ihre Nutzung von mobilen digitalen Technologien mag sich von Individuum zu Individuum und von Gruppe zur Gruppe unterscheiden (Emmer et al. 2016). Die Forschung stimmt aber damit überein, dass das Smartphone für Flüchtlinge lebensnotwendig ist, ein moderner Kompass, der ihnen den Weg auf der Durchreise Richtung Europa zeigt: GPS, Nachrichten, Informationen über Wetter, Unterkunftsmöglichkeiten, Hindernisse, auch Jobs. Das Smartphone ermöglicht vor allem interpersonale Kommunikation: mit Familie, Freunden, politischen Netzwerken (für die politisch Engagierten), mit den Schmugglern sowie miteinander und untereinander. Es enthält Fotos, Musik, Spiele, Dokumente: Erinnerungen und Zerstreuung und den Beweis über das, was sie waren. Ein ganzes Lebensgepäck wird dadurch transportiert. „Indeed the refugee journey has become a media as much as a physical journey; a “Digital Passage to Europa” (Latonero 2015: Latonero and Kift, this issue in: Gillespie 2018).
Diese unterschiedlichen und vielschichtigen Erfahrungen mit der mobilen digitalen Infrastruktur erfordern ein erweitertes Verständnis von „affordances“ als Handlungsmöglichkeiten. Über die reinen funktionalen und rationalen „affordances“/Vorteile hinaus, die das Medium anbietet, wie Tragbarkeit, Verfügbarkeit, Erreichbarkeit, Multimedialität, etc. soll die affektive Komponente mitgedacht werden. Die Studien zeigen die Rolle der Gefühle, der Imagination in der Interaktion zwischen der Materialität der Medien und den Mediationsprozessen.
Gerade an dieser Schnittstelle muss die Erwachsenenbildung andocken, damit gut gemachte und gut gemeinte digitale Lernarrangements erfolgreich angenommen werden. Die Bereitschaft der Flüchtlinge, in dem Smartphone auch ein Instrument des Lernens zu sehen und die notwendigen Energien für den Lernprozess zu mobilisieren, muss geweckt werde. Eine gerade erschienene UNESCO Publikation “A lifeline to learning, leveraging technology to support education for refugees” schließt ihre Analyse von Anwendungen für Flüchtlinge mit folgenden Hinweisen. Sie warnt vor der Falle des Technozentrismus und vor den Grenzen passiven Lernens. Sie plädiert für einen lernenzentrierten Ansatz, der den Bedarfen der Lernenden Rechnung trägt (UNESCO 2018). Schließlich heben Kearneya und Kolleg/inn/en folgende drei Aspekte vor: Personalisierung, Authentizität und Kooperation. Insbesondere die Möglichkeit, mit Anderen (Lernenden, Lehrenden, Ressourcen) an einer gemeinsamer Aufgabe zu arbeiten, knüpft an Erfahrungen und Kompetenzen der Flüchtlingen im Umgang mit mobiler digitaler Infrastruktur. Und diesmal, hoffentlich, an einem sicheren Ort und zum Zweck der Verbesserung ihres Lebens..
Literatur
- Emmer M., Richter C., Kunst M. (2016). Flucht 2.0 Mediennutzung durch Flüchtlinge vor, während und nach der Flucht. Freie Universität Berlin Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Berlin
- Gillespie, M.; Osseiran, S. and Cheesman, M.(2018). Syrian Refugees and the Digital Passage to Europe: Smartphone Infrastructures and Affordances. Social Media + Society, 4(1) pp. 1–12
- Kearney, M., Schuck S., Burden, K. Aubusson, P. (2012). Viewing mobile learning from a pedagogical prospective. In: Research in Learning Technology, 20 und
- Kondova, K. (2016): The smartphone as a lifeline: the impact of digital communication technologies and services on refugees’ experiences during their flight. Master Thesis, Erasmus University of Rotterdam
- Kukulska-Hulme, A. (2015): Mobile Incidental Learning to Support the Inclusion of Recent Immigrants. In: Ubiquitous Learning: an international journal, 7(2) pp. 9–21.
- St Georg, T. V. (2017). „As important to me as water': How refugees in Rome use smartphones to improve their well-being.“ A thesis presented in partial fulfilment of the requirements for the degree of Master of International Development at Massey University, Palmerston North, Manawatū, New Zealand.
- UNESCO (2018). A lifeline to learning, UNESCO education sector, UNESCO Publishing, Paris.
- UNHCR (2016). Connecting Refugees. Geneva
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