Lars Kilian Blog

Neue Räume und neue Lehre für Flipped Classroom?

Das Bild zeigt vier gezeichnete Personen, die miteinander zu diskutieren scheinen: Über ihnen ist eine große gemeinsame Sprechblase mit verschiedenen stilisierten Grafiken und Bildern gezeichnet.

Flipped Classroom zählt zu den Methoden, die Lehr- und Lernprozesse an passendere Stellen und Zeiten zu rücken scheinen. Damit einher geht jedoch auch eine Bedeutungsänderung an die Rolle und Funktion von Lehrenden und Seminarräumen. Der Blogbeitrag verweist auf einige dieser Änderungen und gibt einen Einblick in die damit verbundenen Chancen.

Die Besonderheiten des Flipped Classroom

Flipped Classroom ist eine Methode, die die Zeit der Aneignung neuer Lerngegenstände durch die Lernenden aus der Lehrzeit herausnimmt. Hierfür stellen Lehrende die Lernmaterialien den Lernenden vor der jeweiligen Lehrveranstaltung zur Verfügung, die diese außerhalb des eigentlichen Unterrichts oder Trainings bearbeiten. Die im Unterricht oder Training gewonnene Zeit kann dafür genutzt werden, sich mit dem Lehrenden und Lernenden über Fragen zu den Lerngegenständen auszutauschen, Themen zu vertiefen und zu reflektieren oder auch anzuwenden. Ein Vergleich von traditioneller Präsenzveranstaltung und Flipped Classroom zeigt die Besonderheiten dieser Art der didaktischen Gestaltung von Lehr-Lern-Szenarien.

Das Bild zeigt eine Tabelle, die die Konzepte der traditionellen Präsenzveranstaltungen und des Flipped Classrooms einander gegenüberstellt.

Tabelle 1: Gegenüberstellung der Konzepte Traditionelle Präsenzveranstaltung und Flipped Classroom (Nimmerfroh, M.-C. 2016, S. 3)

Flipped Classroom – Verlust der Lehrendenrolle?

Wenn Lernende bei Flipped Classroom Ansätzen nun vorzugsweise außerhalb der Bildungseinrichtungen und in Eigenregie die Lerngegenstände bearbeiten, drängt sich der Eindruck auf, dass das Lernen nicht mehr in den Bildungseinrichtungen stattfindet und Lehrende hierdurch mittelfristig Funktionen der Lehrendenrolle verlieren. Gerade in der Erwachsenenbildung, wo Lernende bewusst Angebote auswählen, um mit Lehrenden und Lernenden in Kontakt zu kommen und sich über Themen zu informieren und Kompetenzen zu entwickeln, verstärkt sich dieser Verdacht, wenn nun Lernprozesse außerhalb der eigentlichen Kurszeiten stattfinden. Dann kann man auch gleich zu Hause in Portalen kleine Lehrfilme anschauen und spart sich die Kursgebühr. In der Tat: Lehrende haben bei Flipped Claasroom nicht die Aufgabe, über Themen zu referieren oder hoffentlich kluge, lernendenaktivierende Fragen zu stellen. Jedoch haben Lehrende nun die Aufgabe, die Lerngegenstände so aufzubereiten, dass diese von Lernenden außerhalb des Seminarraums rezipiert werden können. Ad hoc Nachfragen bei Unklarheiten von den Lernenden sind genauso wenig möglich wie die motivierende Worte durch die Lehrenden. Das Lernmaterial muss aus sich heraus anregend gestaltet sein, klar und motivierend. Es sollte unterschiedliche Leistungsstände und Lerninteressen berücksichtigen, den Transfer in eigene Erfahrungshorizonte unterstützen usf. Und natürlich benötigen Lernende einen Zugriff auf die Lernmaterialien, womit neben pädagogischen Fragestellungen auch technisch-organisatorische oder auch rechtliche Aspekte (z.B. aufgrund von Fragen zum Urheberrecht) zu berücksichtigen sind. Demgegenüber haben Lehrende beim Flipped Classroom in den gemeinsamen Veranstaltungen die zum Teil neue Aufgabe, Diskussionsprozesse zu moderieren, Fragen „aufzufangen“, auf die sie ggf. nicht vorbereitet sind, den Transfer des Gelernten zu fördern uvm. Es ist ein Wandel der Lernkultur. Oder wie es King (1993) treffend formulierte:  „From Sage on the Stage to Guide on the Side.“

Flipped Classroom – Lernen, wann und wo man will

Die Möglichkeiten, Lernmaterialien zur Verfügung zu stellen, erweiterten sich im Rahmen des Einzugs der digitalen Medien in die Bildungslandschaft. Natürlich könn(t)en Lehrende Materialien in Papier- und Buchform Lernenden zur Vorbereitung auf die nächste Sitzung mitgeben oder eine Literaturliste erstellen, die sich Lernende besorgen und bearbeiten sollen. Dies geschah auch in der Vergangenheit in verschiedenen Settings – insofern ist Flipped Classroom nicht neu. Da es jedoch nun möglich ist, eigene Lehrinhalte in Form von Videos, Audios, digitalen Dokumenten usf. bereitzustellen, bleibt einerseits die Individualität eigener Lehre erhalten, verbunden, die Lernangebote so aufzubereiten, dass sie den Lernzielen und Lernendeninteressen entsprechen. Andererseits ist der Zugriff über das Internet für Lernende jederzeit und überall möglich. Der Lernraum erweitert sich in die virtuelle Welt.

Verliert der Seminarraum an Bedeutung?

Mit der Verlagerung der Aneignung von Lerngegenständen in Räume außerhalb des Seminarraums könnte selbiger an Bedeutung verlieren. Auch wenn Eingangs bei der Vorstellung der Flipped Classroom Methode die Bedeutung der gemeinsamen Treffen zur Vertiefung und Differenzierung des Gelernten oder auch der Klärung von offenen Fragen betont wurde: dies muss nicht mehr zwingend im Seminarraum erfolgen. Hier kann auf digitale Kommunikations- und Kollaborationswerkzeuge zurückgegriffen werden.. Mehr noch: Durch Kommunikation im virtuellen Raum wäre es möglich, externe Expert*innen in die Diskussionen einzuladen, die zu Spezialthemen Auskunft geben, für welche die Lehrperson – oder besser die Person, die Lernarrangements organisiert – nicht die ausreichende Expertise besitzt. Lernende können sich in synchronen Vertiefungsphasen zum Beispiel über einen Gruppenchat in ihrer Lerngruppe austauschen parallel weitere  Informationen und Argumente aus dem Netz zusammentragen oder gar parallel Mitglieder ihrer Communities außerhalb der Lerngruppe befragen. Derartige Konzepte sind auch nicht neu, wie die Diskussion um Persönliche Lernumgebungen (auch Personal Learning Environment (PLE)) zeigen. Dabei sind diese „konzeptionell nichts anderes als die persönliche Wissens- und Lernumgebung […] Technisch läuft eine PLE auf (Web-)Applikationen hinaus, die für eine individuelle und dezentrale Zusammenstellung vieler verschiedener (Web-2.0-)Werkzeuge (versus einer fremdorganisierten Umgebung wie klassische Learning Management Systeme) offen ist und dem Lernenden im Idealfall lebenslang und unabhängig von bestimmten Bildungsinstitutionen zur Verfügung steht“ (Reinmann 2008, S. 55). Insofern ja: Der Seminarraum im klassischen Sinn kann an Bedeutung verlieren, wie man es zum Teil während der Pandemie bereits erlebte. Der Raum für die gemeinsame Arbeit jedoch behält seine Bedeutung, auch wenn er sich in virtuelle Bereiche verlagert.

Ein Praxisbeispiel gefällig?

Im Rahmen meiner universitären Lehrtätigkeit hatte ich die Aufgabe, das Seminar Medienpädagogik für mehrere Studierendengruppen pro Semester durchzuführen. Es bot sich zu meiner Entlastung an, die Veranstaltung zu virtualisieren, statt sie mehrfach pro Woche in Präsenz anzubieten. Also nahm ich meine Folien, sprach meine Ausführungen dazu via digitalem Diktiergerät auf, stellte beides mit Literaturliste den Studierenden auf der Lernplattform zur Verfügung. Dazu gab es „Denkaufgaben“. Zum Beispiel: Was hat der Sputnik Schock mit der Entwicklung von Lehr- und Lernmedien zu tun? Studierende konnten sich über diese Denkaufgaben im Diskussionsforum austauschen, eigene Fragen stellen und Fragen der Kommilitonen beantworten. In Präsenz wurden – wie beschrieben – die Inhalte vertieft, aber nicht wiederholt. Dabei zeigte sich im Vergleich zu vorher durchgeführten Präsenzveranstaltungen, dass die thematische Tiefe der Fragen der Studierenden zum Teil meinen Wissenshorizont überschritten, wenn z.B. die Frage im Raum stand, welche Gemeinsamkeiten Brechts Radiotheorie mit den Ansätzen aktiver Medienarbeit von Heute hat. Hier musste ich passen – und die Studierenden goutierten dies! So lernten ALLE. Die Studierenden offensichtlich mit mehr Spaß, Interesse und Ausdauer, wie die Befragung der Studierenden aber auch die Analyse der Arbeitszeiten im Lernraum zeigten. Und ich, durch die Fragen, die weit über das hinausgingen, was ich von Präsenzseminaren gewohnt war. Gleichzeitig ersparte ich mir das repetitive Monologisieren des ständig Gleichen in Präsenzseminaren – ein angenehmer Nebeneffekt.

Warum nicht immer so?

Da stellt sich die Frage, warum Lernen nicht stets auf diese Weise organisiert wird? Auch wenn es in diesem Beitrag sehr einfach klingt, gilt es doch, bei der Arbeit in virtuellen Bildungsräumen einiges zu beachten, damit dies gelingt. Sowohl hinsichtlich der technischen Infrastruktur als auch bei der pädagogischen Planung und Umsetzung oder bei der Berücksichtigung der Lernenden. Auf Details kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden, Literatur hierzu gibt es genug (vgl. Arnold u.a. 2018) und natürlich ist das Internet voller Anregungen, wie hier bei wb-web. Aber der Beitrag soll ermuntern, es selbst zu probieren und die Möglichkeiten des Flippens gemeinsam mit den Lernenden auszuloten.


Das könnte Sie auch interessieren