Was kann erziehungswissenschaftliche Forschung zur Verbesserung der Praxis beitragen? Soll sie das überhaupt? Als „empirische Bildungsforschung“ will sie das, zumal in Verbindung mit dem aktuell beliebten Stichwort „Evidenzbasierung“. Doch unter Erziehungswissenschaftlern ist ebendieser Trend zur empirischen Bildungsforschung höchst umstritten, ebenso wie der Anspruch einer „evidenzbasierten Politik und Praxis“. Ein ernstzunehmender Fachaustausch zwischen Anhängern und Gegnern fehlte dabei in den letzten Jahren; während Kritiker den Streit am liebsten in Medien für die breite Öffentlichkeit austrugen, wollten die Protagonisten ihre Zeit lieber im laufenden Forschungsbetrieb verbringen als mit der Abarbeitung unbequemer Argumente. Nun ist ein Sonderheft „Empirische Bildungsforschung“ der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft erschienen, dessen Untertitel lautet: „Der kritische Blick und die Antwort auf die Kritiker“. Da ist sie also, die Debatte auf Augenhöhe (wenngleich nicht auf neutralem Boden, denn in der ZfE haben die Kritiker ein Auswärtsspiel). Was nach der Lektüre bleibt, berichtet Peter Brandt in der Rubrik „Forschung quergelesen“.
Wer krank ist und ein Medikament benötigt, kann sich glücklich schätzen, dass die Wirkungen und Nebenwirkungen einer Arznei im Grundsatz erforscht sind. Wenn Schulen auf das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Förderbedarf umgesteuert werden, so erfolgt das Experiment Inklusion gewissermaßen am lebenden Objekt. Kann sich dieser wenig wünschenswerte Zustand mit mehr empirischer bildungswissenschaftlicher Forschung ändern? Nein, sagen die ganz entschiedenen Kritiker. Physiologische Wirkungen eines Medikaments im Körper unterliegen naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten. Die Wirkungen einer „pädagogischen Intervention“ seien damit prinzipiell unvergleichbar, weil Schule und Unterricht Kommunikationsgeschehen seien, deren Analyse nicht nach naturwissenschaftlichen Methoden erfolgen könne. Doch damit sind die „What-works-Fragen“ nicht für alle vom Tisch. Vielleicht gibt es ja Forschungsstrategien und Forschungsdesigns, die ermöglichen, Randbedingungen so zu kontrollieren, dass die pädagogischen Effekte einer Intervention messbar werden. Das hoffen nicht nur an Forschung interessierte Praktiker, sondern für die ganz großen Systemfragen auch Bildungspolitiker, etwa wenn sie Entscheidungen treffen müssen zu „G8 oder G9?“ oder zur Gestaltung von Inklusion. Und es gibt eine Reihe kleinerer Fragen, zu denen empirische Forschung schon brauchbares Beschreibungs- und Erklärungswissen hervorgebracht hat.
Welche Erkenntnisse liefert die Lektüre des aktuellen ZfE-Sonderhefts in dieser Lage?
Zunächst einmal sensibilisiert sie für die Unterscheidung der verschiedenen Player in diesem System und ihren Interessen, die nach allgemeiner Erfahrung im Bildungsbereich holzschnittartig so beschrieben werden könnten: Da sind zum einen die schon erwähnten Politiker. Einige von ihnen wünschen lediglich ein paar wissenschaftlich klingende Argumente, mit denen sie ihre unverrückbare ideologische Haltung meinen untermauern zu können. Andere sind unvoreingenommener und würden jedem Rat der Wissenschaft folgen, wenn dieser nur mehr Effektivität im Bildungssystem verspricht. Zweitens ist da die große Zahl der Praktiker, allen voran Lehrende in Schule, Hochschule und Weiterbildung. Sie verfügen über einen großen Erfahrungsschatz und lassen sich durch Erkenntnisse der Wissenschaft zu Wirkfaktoren ihres Handelns unterschiedlich irritieren. Die Rezeption der Hattie-Studie ist ein gutes Beispiel für die verschiedenen Reaktionsmuster. Drittens sind da die Wissenschaftler. Unter ihnen sind nicht wenige, die empirische Bildungsforschung für eine Kümmerform erziehungswissenschaftlichen Tuns halten, verdächtig nahe an einem technokratischen Weltbild und überdies in selbstgewählter Abhängigkeit von einer Bildungspolitik, die Large-Scale-Assessments mit viel Geld ermöglicht. Eben jene, die auf der Welle der empirischen Bildungsforschung schwimmen und über große Drittmittelsummen verfügen, argumentieren, dass es sinnvoller sei, sich mit der Wirklichkeit pädagogischen Handelns zu beschäftigen als mit den Ansprüchen daran, und dass es zudem notwendig sei, an internationale Forschungsentwicklungen Anschluss zu halten.
Angesichts dieser Ausgangslage ist es dann doch verwunderlich, welche Annäherungen sich mit dem ZfE-Sonderheft ergeben, wenn sich Protagonisten und Kritiker der empirischen Bildungsforschung über die Begriffe, die sie verwenden, und die Fragen, die sie beantworten wollen und können, Rechenschaft ablegen.
Einigkeit besteht darin, dass empirische Bildungsforschung bisher im Wesentlichen Beschreibungswissen liefert, also Was-ist-der Fall-Fragen beantwortet. Das gilt auch und gerade für die großen und international vergleichenden Erhebungen zum Kompetenzstand von Jugendlichen und Erwachsenen (PISA und PIAAC). Was zu tun ist, beantworten diese Studien nicht. Sie geben auch nur teilweise Aufschluss über Ursachen des Beobachteten, liefern aber immerhin die „Darstellung von Zuständen, längerfristigen Entwicklungen und stabilen Zusammenhängen“ (Baumert, S. 227). Kritiker bemängeln, dass die Ursachenanalyse den Praktikern überlassen wird, die dafür gar keine Ausbildung haben (vgl. z.B. der Beitrag von Bellmann). Die politische Strategie dahinter sei aber, allein durch die Befunde ein schlechtes Gewissen und damit Veränderungsdruck zu erzeugen.
Klar wird auch, dass empirische Forschung selber in der Regel keine didaktischen Konzepte entwickelt, sondern immer nur existierende überprüft (Hartmann u.a. S. 189 im Anschluss an Prange). Wissenschaftliche Evidenz könne somit immer nur eine notwendige, niemals eine hinreichende Bedingung sein für die Lösung von Alltagsaufgaben von Lehrkräften (ebd., 191). Unterwegs lernt man auch, dass „evidenzbasiert“ nicht die Forschung sein kann, wie manche derzeit schreiben, sondern nur Politik oder Praxis – aufgrund idealerweise von der Forschung beschaffter Evidenz.
Die gefragteste Spielart einer zugleich anwendungsorientierten und nutzeninspirierten empirischen Forschung dürfte nach wie vor die Gewinnung von Veränderungswissen sein: Welche Interventionen wirken wie? Während nun die Kritiker beklagen, dass empirische Forschung bis dato den Beleg schuldig bleibe, diese Disziplin überhaupt zu beherrschen, verweisen die Protagonisten empirischer Bildungsforschung auf die prinzipielle Möglichkeit, hier erfolgreich sein zu können, räumen aber den großen Aufwand ein, den dies mit sich bringe. Die Kritiker wird es vielleicht am ehesten beruhigen, dass selbst ein Jürgen Baumert am Ende skeptisch bleibt gegenüber der Erreichbarkeit handlungsleitender Evidenz beim Veränderungswissen. Zu einem randomisierten Feldexperiment –und das ist Champions League der Bildungsforschung! – zur Sprachförderung von Grundschülern in einer Sommerschule lautet sein Fazit: „Handlungsleitende Evidenz? Wohl kaum, aber eine Orientierung [… für] Bildungspolitik und Bildungsadministration“ (S. 241f.).
So steht man am Ende einer aufschlussreichen Lektüre vor der politischen Frage, ob die ganz erheblichen Forschungsmittel, die in dieses Feld fließen und noch weiter fließen müssten, den Beitrag des Steuerzahlers wert sind. Wer hier vorschnell den Rotstift ansetzen will, der sei daran erinnert, dass Baumert bei aller Zurückhaltung doch darauf verweist, dass Wissenschaft ihren Beitrag zur Verbesserung von Bildung und Erziehung leisten kann, sofern die Differenz der Handlungslogiken in Politik, Praxis und Wissenschaft beachtet würden. Die Anerkennung von Erziehungswissenschaft und empirischer Bildungsforschung in Politik und Praxis wird nicht zuletzt davon abhängen, ob das angebotene Wissen dort als nützlich und hilfreich eingeschätzt wird.
Das Sonderheft der ZfE ist der Versuch, Bildungstheorie und -forschung miteinander im Gespräch zu halten (vgl. den Beitrag von Tenorth), eine Aufgabe, die sich nicht nur disziplinpolitisch aufdrängt, da die empirische Bildungsforschung ihre eigene Fachgesellschaft gegründet hat und zunehmend eigene Medien bespielt. Sie stellt sich auch für die Bildungspraktiker, denen eine Analyse der Wirklichkeit nicht wichtiger sein darf als die Bestimmung von Zielen.
Jürgen Baumert; Klaus-Jürgen Tillmann (Hrsg.). Empirische Bildungsforschung. Der kritische Blick und die Antwort auf die Kritiker. ZfE Sonderheft 31, 2016