Angelika Gundermann Blog
100 Jahre Volkshochschule – „Erzähl uns die Geschichte dazu“
wb-web: Zu den einhundert Jahren werden einhundert Geschichten erzählt. Welche Auswahlkriterien hatte die Redaktion? Was konnte ein Anlass oder Ereignis sein, für den oder das ein Beitrag entstehen sollte?
Thomas Jung: Unser Team von Redakteuren und Herausgebern hat ganz am Anfang, das war vor gut zwei Jahren, zusammengesessen und gemeinsam überlegt, wo die Volkshochschule unterwegs ist. Das sind zum einen Themenfelder: Welche Inhalte, welche Gegenstände werden von der Volkshochschule behandelt? Das zweite ist die regionale bzw. geografische Verortung: Wo sind Volkshochschulen zu finden? Des Weiteren haben wir ins Auge gefasst, für welche Zielgruppen Volkshochschule tätig ist. Und wir haben überlegt, mit welchem Personal sie ihre Arbeit leistet, also mit welchen Hauptberuflichen und welchen Freiberuflern. Und wir hatten immer auch den Hausmeister im Blick, der an der VHS tätig ist und ohne den eigentlich nichts ginge. Nur ist er leider am Ende doch nicht im Buch zu finden.
Wir haben natürlich immer auch auf den politischen und ideologischen Kontext in dieser so wechselvollen hundertjährigen Geschichte geschaut. Und wir haben ins Ausland geschaut, haben uns gefragt, welche internationalen Verbindungen es gibt. Da war zum einen der DVV International mit seinen Aktivitäten und zum anderen gab es ja Teilnehmende aus, wie man damals sagte, Entwicklungsländern oder jungen Nationalstaaten, die nach Deutschland gekommen waren und an der Volkshochschule einen Lernort fanden. Im Rückblick gesehen, waren das spannende Entwicklungen in den fünfziger, sechziger, siebziger Jahren. Die ersten Deutschkurse für Arbeitsmigranten aus der Türkei zum Beispiel, später dann aus Afrika. Oder auch für politische Flüchtlinge aus Chile in den Siebzigern. Und heute gibt es die sogenannten Alphabetisierungskurse, die ihren Ursprung aber eigentlich schon vor Jahrzehnten hatten.
100 Jahre Volkshochschule in Ost und West
Dann haben wir auf die Ausgewogenheit der Geschlechter geschaut: Es geht um Frauenbildung, es geht um Männerbildung. Und wir haben darauf geschaut, dass die doppelte deutsche Staatsgeschichte berücksichtigt wird, dass also für die Zeit von 1949 bis 1989 auch die Volkshochschule in der DDR berücksichtigt ist. So erzählen VHS-Mitarbeitende aus dem Osten ihre Geschichte. Aber auch nach 1990 gerät der Osten nicht aus dem Blick, denn dort haben Wandlungsprozesse stattgefunden, die für die gesamtdeutsche Geschichte wichtig sind.
All diese verschiedenen Perspektiven haben wir zusammengestellt und versucht so auszubalancieren, dass alle Interessen, alle Akteure, alle Themen abgebildet werden. Wir hoffen, dass die Leserinnen und Leser diesen Balanceakt nachvollziehen können und uns verzeihen, wenn einige Geschichten nicht erzählt und manche Perspektive vernachlässigt worden sind. Denn wir mussten auswählen – wie Geschichtsschreibung ja immer ein Auswahlprozess ist.
wb-web: Ich finde, das ist auch gut gelungen. Das Buch macht ein sehr breites Feld auf, bei jedem Umblättern findet die Leserin einen neuen Aspekt. Deine Geschichte, also dein Beitrag zum Buch, gehört zu welchem Jahr und hat welches Thema?
Thomas Jung: Das ist das Jahr 1958. Es ist eine Geschichte, die vor meiner eigenen Biografie liegt: Ich erzähle die Geschichte der sogenannten Berliner Grenzkinos, die Zuschauer von Ost- nach West-Berlin über die damals noch offene Zonengrenze lockten, um sich verbotene Filme anzusehen. Das hatte mit der nicht nur ideologischen, sondern eben auch kulturellen und am Ende politischen Teilung des Landes zu tun. Man spricht gerne über Zensurvorgänge in der DDR der fünfziger und sechziger Jahre. Dabei vergisst man manchmal, dass es in der frühen Bundesrepublik unter Adenauer auch Verbote von Büchern, Filmen und Zeitschriften aus dem anderen Deutschland gab. Die Volkshochschule, mit ihrem emanzipatorischen Bildungsauftrag, hat sich zumindest im Westen in jener Zeit eine gewisse Autonomie bewahrt und jene Filme in Programmkinos geholt, die im Osten verboten waren. Diese Matineen waren damals wahre Publikumsmagneten.
Und so erzähle ich eine fiktive Geschichte eines Grenzgängers, der von Ost- nach West-Berlin geht, um in den damals tatsächlich existierenden, aber heute längst vergessenen Grenzkinos Verbotenes aus seinem eigenen Land zu sehen.
wb-web: Mir gefällt an dem Buch, dass jede aufgeschlagene Doppelseite eine Geschichte erzählt. Und zu jeder dieser Geschichten gibt es ein großformatiges, meist historisches Foto oder eine andere schöne Abbildung. Damit wird die Geschichte illustriert. Manchmal aber erzählt das Foto für sich schon eine Geschichte. Bild und Geschichte sind also eng miteinander verbunden. Gab es bei deiner Geschichte erst das Bild oder erst die Geschichte?
Thomas Jung: Bei mir war zuerst die Geschichte da, obwohl ich eine Vorstellung hatte, von welchem Film ich erzählen wollte. Und zu diesem Film hatte ich Bilder im Kopf. Ich wusste, dass eines dieser Fotos jene unangepassten Jugendlichen zeigt, die in der Schönhauser Allee am U-Bahnhof Dimitroff-Straße – so hieß er damals – stehen und sich nach dem West-Teil der Stadt sehnen. Und dieser Westen lag nur hundert Meter entfernt von der Stelle, wo das Foto entstand. Das war das Bild, das den Zeitgeist dieser jungen Leute beschreiben würde, die in dem Film von Gerhard Klein die Hauptrolle spielen. Und um diese jungen Leute sollte es auch in der Geschichte gehen.
Ich muss zugeben, dass die Geschichte nicht völlig frei erfunden ist. Ein wenig spielen hier Erinnerungen meines Vaters hinein, der in Dresden wohnte und nach Ost-Berlin zu seinen Verwandten fuhr, um in West-Berlin ins Kino zu gehen. Und er war dann eben auch in diesen Grenzkinos.
Autoren öffnen ihr Schatzkästchen
wb-web: Als Redakteur des Bandes warst du involviert in das Auswahlverfahren der anderen Autorinnen und Autoren. Wie war das bei den Anderen mit dem Verhältnis von Bild und Text?
Thomas Jung: Wir haben zunächst mit den Herausgebern die Auswahl der Themen zu den einzelnen Jahren abgestimmt. Danach haben wir Vorschläge entwickelt, welchen Autor wir anfragen können. Da ging es zum einen um historische Expertise, das heißt, wer kann diese Geschichte möglichst kenntnisreich und souverän erzählen. Zum anderen ging es auch um Zeitzeugenschaft. Gab es eine Person, die eine Episode repräsentieren würde, weil er oder sie sie selbst erlebt hat. Wer könnte sie authentisch erzählen? Das funktioniert bis in die sechziger Jahre. Für die Zeit davor war es schwierig, Zeitzeugen zu finden. So waren wir für die frühen Jahre auf historisch informierte Kolleginnen und Kollegen angewiesen. Die haben wir in der Community der historischen Erwachsenenbildungsforscher natürlich gefunden.
Nachdem die Autorinnen und Autoren gesetzt waren, haben wir sie mit einer ganz konkreten Idee angesprochen. Das heißt, wir hatten eine Idee, was für eine Geschichte für jedes Jahr erzählt werden sollte. In der Regel ist es uns gelungen, den Autoren ein Motiv als Erzählanlass mitzuliefern. An einigen Stellen haben wir den Autoren sogar das Bild selbst geliefert, das wir vorher in Archiven recherchiert hatten, so dass die Autoren sich darauf beziehen konnten. Manchmal aber hatten auch die Autoren von sich aus eine Idee – „Ich hab da was in meinem Schatzkästchen“ oder „Ich habe eine Idee, in welchem Archiv ich das finde“. In jenen Fällen, wo wir ohne Bild dastanden, haben zwei fleißige Bildredakteurinnen in den zahlreichen digitalen Archiven recherchiert und tolle Ideen hervorgezaubert.
Die Idee, die Geschichte vom Bild her zu erzählen, war von Anfang an da. Und die haben wir den Autoren auch immer nahe gelegt: „Lieber Autor, stell dir vor, das ist das Bild. Erzähl uns die Geschichte dazu.“ Das konnte ein Gebäude sein, ein Porträt, ein Gruppenfoto, eine Szene in einem Seminarraum, eine alte Postkarte, eine Grafik, ein Plakat. Oder es war ein Trabant abgelichtet, der in der Dresdner VHS im Jahr 1977 repariert wird. Und viele Autoren haben sich darauf eingelassen.
wb-web: Welche der 100 Geschichten ist deine Lieblingsgeschichte? Hast du eine oder mehrere?
Thomas Jung: Mich faszinieren die Geschichten aus den zwanziger und dreißiger Jahren am meisten. Das war die Gründungsphase der Weimarer Republik. Da gab es diese euphorische Aufbruchsstimmung: Volksbildung mit dem Volk und für das Volk gestalten zu können. Und dann kam die Zeit der politischen Widersprüche, bis hin zu den Straßenkämpfen zwischen Rot und Braun, gleichzeitig aber mit einem sehr lebendigen kulturellen Leben und eben dieser kreativen Grundhaltung. Letztere spiegelte sich ja zum Teil auch in der Architektur der Gebäude wider. Einige Volkshochschulen gehen auf diese Zeit zurück, auf die Bauhaus-Tradition, wo sich Ästhetik, Architektur und Bildung gegenseitig befruchteten.
Bei der Arbeit an diesen Texten habe ich mit großartigen Autoren zusammengearbeitet. Dabei habe ich selbst sehr viel gelernt, was mein Wissen über diese Zeit bereichert hat.
Und ich möchte behaupten, dass wir für diese Epoche auch die schönsten Fotos haben. Damals wurde das Foto noch bewusst inszeniert, also „in Szene gesetzt“. Man nahm sich Zeit für das Foto. Und man nahm sich einen professionellen Fotografen. Man muss sich erinnern: Die Kleinbildkamera mit Rollfilm oder die digitale Handykamera gab es damals noch nicht. Ganz am Anfang stand der Fotograf mit seinem hölzernen Kasten auf dem Stativ vor dem, was er fotografieren wollte – so zum Beispiel vor dem Bauhaus-Gebäude in Dessau. Das ist ein wunderschönes Foto aus den zwanziger Jahren.
wb-web: Du hast die internationalen Bezüge der Volkhochschule angesprochen. In welchen Geschichten finden wir diese wieder?
Thomas Jung: Da ist zum Beispiel die Geschichte über das Jahr 1962, in dem von einem Schulungsheim für Afrikaner erzählt wird. Es geht hier um Menschen, die aus den befreiten Ländern Afrikas kommen und in der Bundesrepublik lernen dürfen. Solche Geschichten gibt es auch aus der DDR. So erzählt das Buch vom Engagement der VHS Jena für Lernende aus Chile, Mozambique und Vietnam. Gerade junge Chilenen kamen in den späten Siebzigern nach Deutschland, als der Pinochet-Putsch Andersdenkende flüchten ließ.
wb-web: Du hast die Themen Frauenbildung und Männerbildung erwähnt. Gesehen habe ich den Beitrag zum Jahr 1924 „Bildung für Frauen an der Volkshochschule Stuttgart“. Der Beitrag liest sich übrigens erstaunlich aktuell. Wo aber finden wir die Männerbildung?
Thomas Jung: Es gibt ein großartiges fiktives Interview mit Herbert Grönemeyer über seine damalige Single-Auskopplung „Männer“.
Beiträge von prominenten Autorinnen und Autoren
wb-web: Tatsächlich gibt es auch noch andere prominente Autorinnen und Autoren. Bei einigen liegt die Verbindung zur Volkshochschule auf der Hand, etwa bei Annegret Kramp-Karrenbauer als Präsidentin des Deutschen Volkshochschul-Verbandes. Bei Eckart von Hirschhausen ist mir die Verbindung neu. Kannst du mir erklären, wie er zur Volkshochschule passt?
Thomas Jung: Es ging um das Thema Gesundheitsbildung. Und Eckart von Hirschhausen hat in den Massenmedien den Status eines Messias für Gesundheitsbildung. Und er hat dankenswerterweise der Einladung zugestimmt und diesen Text für uns verfasst. Das ist in der Tat auch einer meiner Lieblingstexte, nicht nur weil er die zwanziger Jahre erzählt. Es ist vielleicht der unterhaltsamste Text für das Publikum. Er erzählt die Geschichte der Gesundheitsbildung in Dresden in den zwanziger Jahren. Und er zeigt, wie wichtig Sport und Bewegung bis heute sind. Dabei kontrastiert er vorzüglich die damalige mit der heutigen Sprache.
Ein anderer prominenter Autor ist Joachim Gauck, der als ehemaliger Bundespräsident und früherer Bürgerrechtler eine ganz besondere Rolle für die politische Bildung gespielt hat.
wb-web: Für das DIE ist dieses nicht-wissenschaftliche Buch eher ungewöhnlich.
Thomas Jung: Ja, das ist ein besonderes Buch für das DIE. Und zwar insofern, als dass es keine strenggenommen wissenschaftliche Publikation ist, sondern für den Buchmarkt und ein hoffentlich möglichst breites Publikum konzipiert ist. Es vermeidet eine wissenschaftliche Diktion, es vermeidet den üblichen Fußnotenapparat. Es zitiert freilich seriös die historischen Quellen, die im Anhang nachgewiesen sind. Das Buch versucht aber, weitgehend erzählerisch und nicht wissenschaftlich analysierend daherzukommen. Es lädt den Leser ein, sich in die verschiedenen Epochen hineinzuversetzen – mit der Auswahl der Bilder, die eben keine abstrahierenden Diagramme, sondern erzählende Bilder sind. Das war der Anspruch: Erzählen in Worten und Bildern.