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Gruppenydnamik

Das Lernen in Gruppen folgt eigenen Regeln

„Solingen: Salafist will der Gruppendynamik unterlegen sein“, schreibt rp-online.de. „Klimawandel und Gruppendynamik: es ist ein Konflikt in den Köpfen“, berichtet der Deutschlandfunk. „Rausch, Mutprobe, Gruppendynamik: Wenn Leichtsinn tödlich endet“, meldet swr.de. Der Begriff „Gruppendynamik“ wird in unserem Sprachgebrauch häufig negativ besetzt. Diese Deutung wird der Vielseitigkeit des Begriffs jedoch nicht gerecht. Für die Arbeit von Lehrkräften in der Weiterbildung ist die Gruppendynamik zur Interaktion in und mit Gruppen relevant. Grundlagenkenntnisse über gruppendynamische Prozesse vergrößern somit die Lehrkompetenz von Weiterbildnerinnen und Weiterbildnern.

DefinitionWas ist das?

Eine Gruppe besteht aus zwei oder mehr Menschen, die interagieren und deren Bedürfnisse und Ziele sich gegenseitig beeinflussen. Eine Gruppe verfolgt einen gemeinsamen Zweck und ist keine zufällige Ansammlung von Menschen. Dieser Zweck kann unterschiedlicher Art sein, z. B. die Lösung politischer oder gesellschaftlicher Probleme oder – banaler – der Wille, auf einer Party gemeinsam zu feiern. Im Kontext der Weiterbildung besteht dieser Zweck im gemeinsamen Lernen.

Der Begriff „Gruppendynamik verweist darauf, „dass eine Gruppe kein statisches Gebilde ist, sondern entsteht, sich verändert, ergänzt wird, zerfällt“, stellen Nuissl und Siebert fest (2013, S. 124).

GeschichteWoher kommt das?

Der Begriff "Gruppendynamik" wurde geprägt vom Psychologen Kurt Lewin (1890–1947). Nach Lewin ist Gruppendynamik eine eigendynamische, soziale Realität, die mehr und etwas anderes ist als die Summe ihrer Teile, also die Summe der aus ihr bestehenden Individuen. Ein Rückschluss von individuellen Verhaltensmustern auf das Verhalten einer Gruppe ist somit nicht möglich.

Die gruppendynamische Interventionspraxis (auch: angewandte Gruppendynamik) entstand im Jahr 1946, basierend auf einem von Lewin geleiteten Seminar mit Führungskräften in den USA (Leven, 2013, S. 32). In den 1950er Jahren fand der Begriff auch in Deutschland Verbreitung. 1963 fand schließlich das erste gruppendynamische Training in Deutschland statt (Rechtien, 1990, S. 108f.).

MerkmaleWie geht das?

Der Begriff der Gruppendynamik kann über drei verschiedene Zugänge betrachtet werden:

  1. umgangssprachlich: das Verhalten von Gruppen auf psychosozialer Ebene, häufig negativ besetzt im Sinne von „sich der Gruppendynamik oder Gruppendruck beugen“
  2. sozialwissenschaftlich: die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit gruppendynamischen Prozessen
  3. praktisch: angewandte Gruppendynamik als ein Verfahren sozialen Lernens 

Ein zentraler Aspekt einer Gruppe ist die Interaktion zwischen den Gruppenmitgliedern und somit die gegenseitige Beeinflussung derselben. Diese Interaktion reduziert sich mit zunehmender Größe der Gruppe. Wenn eine Gruppe mehr als 16 Personen zählt, so geht die Wahrscheinlichkeit, dass jedes Gruppenmitglied mit jedem anderen Mitglied der Gruppe in Beziehung tritt, gegen Null. In der Gruppenforschung spricht man daher von einer idealen Gruppengröße bis maximal 15 Personen (Leven, 2013, S. 32).

In Gruppen herrscht eine Rollenverteilung vor. Der österreichische Psychoanalytiker Raoul Schindler hat ein häufig zitiertes Modell zur Rangordnung in Gruppen entwickelt, das die Rollen Leiter (alpha), Experte (beta), Mitläufer oder einfaches Gruppenmitglied (gamma) und einen Gegenpol zu alpha (omega) umfasst. Diese Rollen bestimmen die Dynamik in einer Gruppe. 

Eine neuartige Form der Gruppendynamik lässt sich in der Arbeit mit virtuellen Gruppen beobachten. Auch onlinebasierte Gruppen finden sich zusammen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Die Aufhebung der orts- und zeitgebundenen Interaktion innerhalb der Gruppe zeigt aber die Grenzen klassischer gruppendynamischer Erklärungsmodelle auf. Verschiedene Aspekte traditioneller analoger Gruppen, wie z. B. die Rollenverteilung, kommen in virtuellen Gruppen nicht deckungsgleich zum Tragen. Auch die Interaktion innerhalb der Gruppe folgt in virtuellen Umgebungen anderen Gesetzmäßigkeiten, da der persönliche Austausch von Angesicht zu Angesicht entfällt und somit non-verbale Signale (Mimik, Gestik, Prosodie) nicht wahrgenommen werden können.

Es finden sich online immer größere Gruppen mit gemeinsamen (Lern-)Zielen zusammen, wie das Beispiel Massive Open Online Courses (MOOCs) zeigt. Dies stellt Gruppenleitungen vor neue Herausforderungen. 

HandlungsfelderWo brauche ich das?

Weiterbildende sind in ihrer Rolle als Leitende Teil gruppendynamischer Prozesse. Sie wirken auf die Gruppendynamik und werden selbst von der Gruppe beeinflusst. Die Rolle der Kursleitenden ist stetiger Veränderung ausgesetzt: „vom Experten zum Moderator zum Animateur zum Lerncoach zum Gutachter usw.“ (Nuissl & Siebert, 2013, S. 124).

Kursleitende müssen die Dynamik innerhalb von Gruppen bei ihrer Arbeit berücksichtigen. Die Interaktion der Kursleitenden mit der Gruppe definiert sich nicht nur aus der Beziehung mit den einzelnen Gruppenmitgliedern heraus. Vielmehr existiert ein komplexes Geflecht von Beziehungsmustern zwischen den Gruppenmitgliedern. Die Mitglieder der Gruppe nehmen bestimmte Rollen ein, die aber wiederum dynamisch sind. Erst wenn gruppendynamische Prozesse – neben sozial-emotionalen, fachlichen sowie didaktischen Aspekten – berücksichtigt werden, kann von einem professionellen Weiterbildungsansatz gesprochen werden (Döring, 2008, S. 212).

Der amerikanische Psychologe Bruce W. Tuckman hat fünf idealtypische Phasen eines Gruppenprozesses hin zum Teambuilding definiert (→ Abb. 1), die heute häufig zur Analyse von Gruppenprozessen herangezogen werden:

  1. Orientierungsphase (forming)
  2. Auseinandersetzungen um Positionen und Rollen (storming)
  3. Herausbildung von Gruppennormen (norming)
  4. Phase der Arbeitsfähigkeit (performing)
  5. Phase der Trennung (adjourning)

In der ersten Phase des Forming lernen die Gruppenmitglieder die anderen Personen kennen und suchen ihre Rolle innerhalb der Gruppe. Der Lehrkraft fällt hier die Rolle zu, Orientierung zu schaffen sowie Ziele und Aufgaben vorzugeben.

In der Phase des Storming werden Diskussionen um Aufgaben- und Rollenverteilung geführt. Konflikte zwischen Gruppenmitgliedern oder zwischen der Gruppe und der Lehrkraft können auftreten. In dieser Phase muss die Lehrkraft zur Konfliktlösung beitragen, als Schlichter fungieren und das Verbindende betonen.

Die nachfolgende Norming-Phase zeichnet sich durch die Vereinbarung gemeinsamer Normen zur Teamarbeit aus, indem Kompromisse geschlossen werden. Der Lehrkraft fällt zunehmend eine moderierende Rolle zu.

In der anschließenden Performing-Phase arbeiten die Gruppenmitglieder, basierend auf den vereinbarten Normen, daran, das gemeinsame Ziel zu erreichen. Die Konflikte sind überstanden, die Gruppe versteht sich als Team und kann sich auf die zu erledigenden Aufgaben konzentrieren. Und die Lehrkraft kann sich nun zurückziehen und sich unter Umständen der Entwicklung einzelner Teammitglieder widmen.

Den letzten Abschnitt des Gruppenprozesses bildet die Phase des Adjourning. Die Lehrkraft läutet in dieser Phase den Abschied der einzelnen Gruppenmitglieder von der Gruppe ein. Wenn die Performing-Phase sehr erfolgreich war, kann sich unter den Gruppenmitgliedern angesichts des Abschieds von der Gruppe nun Trauer einstellen.

DiskussionWas wird diskutiert?

Ewald Krainz, Professor für Gruppendynamik und Organisationsentwicklung, erkennt im Verhältnis zwischen Wissenschaft und Praxis der Gruppendynamik ein Spannungsfeld. Zum einen wirft Krainz der Wissenschaft vor, sich ausschließlich mit den theoretischen Grundlagen der Gruppendynamik auseinanderzusetzen, ohne eine Verbindung zur Praxis herzustellen. Auf der anderen Seite gebe es Praktiker/innen, die mit immer minimalistischeren Gruppentrainings kleine Nischenmärkte füllen und mit diesem Angebot der Komplexität von Gruppen nicht gerecht werden (Krainz, 2013, S. 37ff.).

Die Entfaltung eines Gruppenprozesses braucht nach König und Schattenhofer eine gewisse Zeit, die nicht beliebig verkürzt werden kann. Stattdessen könnten sich gruppendynamische Übungen anbieten, die klarer strukturiert sind und schneller absolviert werden können als umfangreiche Gruppenprozesse (König & Schattenhofer, 2012, S. 75).

letzte Änderung (Aktualisierung fehlerhafter Links, Lektorat) am 5.7.2019,  CC BY-SA 3.0 by Lars Kilian für wb-web


Aktualisiert am 5. Juli 2019

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Service

Zur Reflexion

  • Warum sprechen Gruppenforscher von einer Gruppe nur bis maximal 15 Personen?
  • Warum lassen sich klassische gruppendynamische Erklärungsmodelle nicht auf die Arbeit in virtuellen Teams übertragen?
  • Skizzieren Sie kurz die fünf Phasen, die eine Gruppe nach dem Modell von Bruce Tuckman durchläuft.

Literaturliste

  • König, O., & Schattenhofer, K. (2012). Einführung in die Gruppendynamik (6. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer.
    Die Einführung zur Gruppendynamik von Schattenhofer und König vermittelt übersichtlich Konzepte der Gruppendynamik und ihre praktische Relevanz. Der erste Teil des Buches erläutert Konzepte und Modelle. Der zweite Teil beschreibt konkrete Anwendungsbeispiele der Gruppendynamik als soziale Form des Lernens.
  •  Leven, K. (2013). Gruppendynamik: eine Selbstvergewisserung. Supervision (2), 31–36.
    In diesem Artikel in der Zeitschrift „Supervision“ vermittelt Karin Leven die Herkunft der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Gruppendynamik. Außerdem erläutert sie zentrale Grundbegriffe der Gruppendynamik und beschreibt den Nutzen gruppendynamischer Kompetenzen für die Arbeit als Supervisor. 
  • Gruppendynamik & Organisationsberatung (4) (2013). Kommunikation in Gruppen mit Unterstützung der neuen Techniken.
    Die Zeitschrift „Gruppendynamik & Organisationsberatung“ veröffentlicht in ihrer Ausgabe mit dem Titel „Kommunikation in Gruppen mit Unterstützung der neuen Techniken” sechs Beiträge, die sich mit der Führung von virtuellen Teams und der Kommunikation innerhalb des Teams sowie mit Erfahrungen des onlinebasierten Lernens auseinandersetzen.
  •  Aronson, E., Wilson, T., & Akert, R. (2004). Sozialpsychologie (4. Aufl.). München et al.: Pearson Studium.
    Das Lehrbuch bietet ein umfangreiches Kapitel zum Thema „Gruppenprozesse: Einfluss in sozialen Gruppen”. Es werden zahlreiche Experimente aus dem Bereich der Sozialpsychologie vorgestellt, die Gruppenprozesse analysieren. Die aufgeführten Beispiele sind verständlich beschrieben und beschäftigen sich stärker mit den Erkenntnissen aus den Experimenten als mit den einzelnen Forschungsdesigns.

Quellen

Aronson, E., Wilson, T., & Akert, R. (2004). Sozialpsychologie (4. Aufl.). München et al.: Pearson Studium.

Döring, K. (2008). Handbuch Lehren und Trainieren in der Weiterbildung. Weinheim, Basel: Beltz.

König, O., & Schattenhofer, K. (2012). Einführung in die Gruppendynamik (6. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer.

Krainz, E. (2013). Zur aktuellen Situation der Gruppendynamik als Wissenschaft und als Praxis. Supervision (2), 37–41.

Leven, K. (2013). Gruppendynamik: eine Selbstvergewisserung. Supervision (2), 31–36.

Nuissl, E., & Siebert, H. (2013). Lehren an der VHS. Ein Leitfaden für Kursleitende. Bielefeld: W. Bertelsmann.

Rechtien, W. (1990). Zur Geschichte der angewandten Gruppendynamik. Gruppendynamik und Organisationsberatung (1), 103–120.


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