Wissensbaustein

Binnendifferenzierung

Lernen als Bereicherung erfahren konstruktive Bildungsarbeit mit Geringqualifizierten

In jeder Veranstaltung der Erwachsenen- und Weiterbildung finden Lehrende Menschen vor, die unterschiedliches Vorwissen, unterschiedliche Interessen und eine unterschiedliche Motivation für den Kurs oder das Seminar mitbringen. Mit standarisierten, für alle Teilnehmenden gleich gestalteten Inhalten und Lernzielen kommt man da als Lehrender nicht weiter, man muss differenzieren. Das gilt nicht nur für die Gruppe der Geringqualifizierten, auf die in diesem Wissensbaustein der Schwerpunkt gelegt wird.

DefinitionWas ist das?

Die Binnendifferenzierung ist eine praktische Konsequenz des Prinzips, mit der Unterschiedlichkeit von Bildungsteilnehmenden bewusst umzugehen. Eine grundlegende Definition sagt: „Binnendifferenzierung“ (oft auch „innere Differenzierung“ genannt) meint alle Differenzierungsformen innerhalb einer gemeinsam unterrichteten Gruppe von Lernenden – also vielfältige Methoden, um mit den Unterschieden der Lernenden umzugehen, ohne die gesamte Gruppe dauerhaft aufzuteilen (in Anlehnung an Klafki & Stöcker, 1991). Dabei arbeiten alle Teilnehmenden an einem gemeinsamen Lernthema.

Für die Bildungsarbeit mit der Zielgruppe der Geringqualifizierten schlagen wir auf Grundlage von Praxisbeobachtungen folgendes Verständnis vor:

  • Binnendifferenzierung ist ein Sammelbegriff für didaktische, methodische und organisatorische Maßnahmen in der Bildungsarbeit, um innerhalb einer Lerngruppe unterschiedliche Lernende individuell zu fördern.
  • Dahinter steht die Grundfrage, ob das Lernen variabler und einfallsreicher für den und die einzelne Lernende gestaltet werden kann. Binnendifferenzierung im Unterricht ist dann das Konzept, um Verbesserungen zu erreichen.
  • Binnendifferenzierung als Konzept folgt dem Anspruch an die Qualität guten Lehrens: Chancengleichheit und optimale Förderung für jede und jeden.
  • Individualisierung meint in diesem Kontext nun nicht isoliertes Selbstlernen. Vielmehr geht es um die Kooperation in und mit der Gruppe, denn Lernen ist ein sozialer Prozess.
  • Binnendifferenzierung ist also eine lernerzentrierte und kooperative Form des Lehrens und Lernens, die ein hohes Maß an Autonomie der Lernenden erreichen will und zugleich die Interaktion innerhalb einer Lerngruppe fördert. Dieses Verständnis des Lernens macht Binnendifferenzierung für die Bildungsarbeit mit Geringqualifizierten wertvoll und passend. Binnendifferenzierung als Konzept ist auch Ausdruck eines pädagogischen Anspruchs, der allen Lernenden die Erfahrung von Lernen als Bereicherung ermöglichen möchte.

GeschichteWoher kommt das?

Das Konzept der Binnendifferenzierung entstammt der Schuldidaktik und wird dort seit den 1960er Jahren berücksichtigt. Es ist im Schulgesetz angelegt und in Schulordnungen sichtbar sowie in Lehrpläne integriert. Der Erwachsenenbildner Hans Tietgens hat in den 1970er Jahren mit dem handlungsleitenden Prinzip der Teilnehmerorientierung die Basis für innere Differenzierungen in der Bildungsarbeit mit Erwachsenen gelegt. Er wollte Lehrenden verdeutlichen, dass nicht die Stofforientierung der Maßstab in der Erwachsenenbildung ist, sondern das Subjekt, der und die Teilnehmende als mündige Erwachsene. Wenn Hans Tietgens von Partizipation der Lernenden sprach, dann war dies Ausdruck einer pädagogischen Grundhaltung, die in unserem dargelegten Verständnis von Binnendifferenzierung eine konkrete Umsetzung findet.

MerkmaleWie geht das?

Den unterschiedlichen Verständnissen von Binnendifferenzierung folgend unterscheidet Bönsch (2008) drei Lernsettings:

  1. Die nachgehende Differenzierung
    Der Unterricht beginnt mit Informationen für alle. Dann folgen Aufgaben und Übungen, die unterschiedlich hinsichtlich Quantität (z.B. Anzahl der Aufgaben), Qualität (Anspruchsniveau), Umfang der Unterstützung (Bereitstellen von Lernmaterial, Lernpaten, Beratung durch Kursleitung) und Zeit sein können.
  2. Die Bearbeitungsdifferenzierung bei klaren Vorgaben
    Es gibt vorgegebene Lernaufgaben. Diese sind anhand von Büchern, Lernplänen, Portfolios selbstständig zu erledigen. Zeit, Hilfesuche und Kooperationen bzw. Sozialformen können die Lernenden flexibel einteilen. Diese Variante stellt hohe Ansprüche an die Selbstständigkeit der Lernenden, fördert sie aber auch.
  3. Die freigebende Differenzierung
    Der gesamte, über einen langen Zeitraum zu lernende, Unterrichtsstoff wird freigegeben und kann von den Lernenden in ihrem eigenen Tempo erworben werden. Das setzt sehr selbstständige, verantwortungsbewusste Lernende voraus.

In der Bildungsarbeit mit Geringqualifizierten findet man eher die erstgenannten Lernsettings.

Differenziert wird nach:

  • Leistungsanforderungen bzw. Schwierigkeitsgraden (Niveaudifferenzierung) der Aufgaben und Übungen,
  • Lernthemen durch Unterthemen bzw. verschiedene Bearbeitungsfragen,
  • Lernzielen, indem die Lernenden ihre eigenen Ziele verfolgen,
  • Lernmedien und Lernmaterialien, die ggf. in einem Lernquellenpool zur Verfügung gestellt werden,
  • unterschiedlichen Sozialformen wie Gruppen-, Kleingruppen- bzw. Tandem- oder Einzelarbeit,
  • Methoden,
  • Lernzeiten, die sich die Teilnehmenden selbstständig oder mitgesteuert durch die Kursleitung flexibel einteilen,
  • Lernstrategien und Lernstilen  .

  (Aschemann, Gugler, & Nimmerfall, 2011, S. 5)

HandlungsfelderWo brauche ich das?

Gerade in der Bildungsarbeit mit Geringqualifizierten  werden Weiterbildungsbarrieren besonders deutlich. Sie bestehen oft weiter, wenn der Schritt in eine Bildungsmaßnahme vollzogen ist. Die Erfahrung, dass durch Binnendifferenzierung individuelle Unterschiede von Teilnehmenden im Lern-Lehrprozess berücksichtigt werden und dass jeder und jedem ermöglicht werden soll, erfolgreich zu lernen, kann diese Barrieren überwinden.

Praktisch umgesetzt gibt es in der Binnendifferenzierung die latente Differenzierung, in der innerhalb der Gruppe individuelle Fragestellungen aufgeworfen und Hilfen angeboten werden. Sie setzt voraus, dass die Unterschiede zwischen den Teilnehmenden gering sind.

Bei sehr großen Unterschieden bietet sich die Einzelförderung in der Gruppe an. Einzelförderung bedeutet, dass die Teilnehmenden ergänzend zum Gruppenunterricht oder im Sinne von Einzelunterricht individuell beim Lernen begleitet werden.

Merkmale und Methoden der Einzelförderung sind:

Um den unterschiedlichen Voraussetzungen gerecht zu werden, ist es für Kursleitende notwendig, sich zu Beginn eines Bildungsangebots einen Überblick über das Vorwissen und die Kompetenzen der Lernenden zu verschaffen. Das Erfassen von Vorwissen und Kompetenzen kann mithilfe von diagnostischen Verfahren  und Instrumenten, z.B. dem ProfilPASS  erfolgen.

DiskussionWas wird diskutiert?

Die Debatten um Binnendifferenzierung sind teils lehrerzentriert, teils lernerzentriert (vgl. Demmig, 2007). Bei der Lehrerzentrierung sind Lehrende als Kursplanende verantwortlich dafür, zwischen Lehrplan und Lernenden zu vermitteln. Bei der lernerzentrierten Perspektive, die in den vergangenen Jahren insbesondere in der Erwachsenenbildung diskutiert wird, ist Binnendifferenzierung eng mit Begriffen wie „Autonomie des Lernenden“, „Individualisierung“ oder auch „Partizipation“, also Beteiligung an Entscheidungen im Lern-Lehrprozess verbunden.

Von den Lehrenden verlangt das skizzierte Konzept der Binnendifferenzierung ein anderes Rollenverständnis. Die Rolle des Wissensvermittlers tritt in den Hintergrund gegenüber der Rolle des Lernmoderators, Beratenden sowie des Lernorganisators von individualisierten Lernumgebungen.

Die neueren Diskurse verbinden Binnendifferenzierung mit Individualisierung sowie mit dem Gedanken, die Vielfalt, das Ungleichsein von Erwachsenen als Chance für die Gestaltung von Lern-Lehrprozessen zu betrachten und zu nutzen, aber auch, erwachsene Lernende in ihrer Autonomie zu fördern und ihnen den Raum für die Selbststeuerung ihres Lernens zu geben. 

Internationale BezügeWie sieht man das woanders?

In den USA oder Großbritannien ist der führende Begriff für die Binnendifferenzierung differentiation oder differentiated instruction, wobei die Informationen und Forschung zur differentiation sich vor allem auf die Schulpädagogik beziehen. Wie dieser Ansatz in der Erwachsenenbildung angewendet werden kann, beschreibt ein Artikel des „TEAL Center: The Teaching Excellence in Adult Literacy (TEAL) Center“, einem Projekt des amerikanischen Department of Education. Im Fazit des Artikels werden die Prinzipien der differentiation zusammengefasst, die aber im Grunde in der Erwachsenenbildung bekannt sind:

  • Lernende motivieren durch die Berücksichtigung ihrer Interessen,
  • Lernaktivitäten so anbieten, dass sie darauf beruhen, was die Lernenden brauchen,
  • Unterschiede der Lernenden berücksichtigen und honorieren.

 (TEAL Center, 2012)


Service

Zur Reflexion

  • Welche Vorlieben beobachten Sie bei Ihren Teilnehmenden in Bezug auf binnendifferenzierende Angebote Ihrerseits?

  • Welche Ihrer Differenzierungsangebote kommen erfahrungsgemäß als „Angebote erfolgreichen Lernens“ bei Ihren Teilnehmenden an? Woran merken Sie das?

Literaturliste

  • Aschemann, B., Gugler P. & Nimmerfall M. (2011). Vierzig Wege der Binnendifferenzierung für heterogene LernerInnen-Gruppen. Graz: Frauenservice Graz. Online unter: http://erwachsenenbildung.at/downloads/service/reader_binnendifferenzierung_heterogene_gruppen.pdf Zuletzt am: 30.9.2015
    Der Reader erläutert knapp und übersichtlich die Voraussetzungen von Binnendifferenzierung sowie die Hoffnungen und Ziele, die sich damit verbinden. Die Zusammenstellung von 40 Methoden für den Umgang mit heterogenen Lerngruppen ist für Lehrende besonders hilfreich. Einige der Methoden und Beispiele stammen aus der Alphabetisierungspraxis; ein Großteil der Methoden lässt sich auch auf andere Bereiche anwenden.

Quellen

Aschemann, B., Gugler P., & Nimmerfall, M. (2011). Vierzig Wege der Binnendifferenzierung für heterogene LernerInnen-Gruppen. Graz: Frauenservice Graz.

Demmig, S. (2007). Das professionelle Handlungswissen von DaZ-Lehrenden in der Erwachsenenbildung am Beispiel Binnendifferenzierung. Eine qualitative Studie. München: Iudicium. Abgerufen von https://kobra.bibliothek.uni-kassel.de/bitstream/urn:nbn:de:hebis:34-1529/1/diss2386_09.pdf

Epping, R., Klein, R., & Reutter, G. (2004). Langzeitarbeitslosigkeit und berufliche Weiterbildung. Didaktisch-methodische Orientierungen. Bielefeld: W. Bertelsmann.

Kemper, M., & Klein, R. (1998). Lernberatung. Baltmannsweiler: Schneider.Klafki, W., & Stöcker, H. (1991). Innere Differenzierung des Unterrichts. In: W. Klafki (Hrsg.), Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik (2., erw. Aufl.) (S. 173–208). Weinheim: Beltz.

Klein, R., & Reutter, G. (2005). Die Lernberatungskonzeption. Grundlagen und Praxis. Baltmannsweiler: Schneider.

Reutter, G. (2010). Berufliche Weiterbildung für „Geringqualifizierte“. In G. Niedermair (Hrsg.), Aktuelle Trends in der beruflichen Aus- und Weiterbildung (S. 245–258). Linz: Trauner.

Reutter, G. (2015). Geringqualifizierte in der arbeitsorientierten Grundbildung – wer sind sie und was brauchen sie? In M. Kunzendorf, & J. Meier (Hrsg.), Arbeitsplatzorientierte Grundbildung – Grundlagen, Umsetzung und Ergebnisse (S. 25–36). Bielefeld: W. Bertelsmann.

Salner-Gridling, I. (2009). Querfeldein – individuell lernen, differenziert unterrichten. Wien: Özeps.

TEAL Center (2012). Fact Sheet: Differentiated Instruction. Abgerufen von  https://teal.ed.gov/tealguide/diffinstruct

Tietgens, H. (1983). Teilnehmerorientierung in Vergangenheit und Gegenwart. Frankfurt a.M.: PAS.

„Vielfalt lernen“ Wiki (2011). Binnendifferenzierung. Abgerufen von http://wikis.zum.de/vielfalt-lernen/Binnendifferenzierung


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