Wissensbaustein

Teilnehmerorientierung in der Erwachsenenbildung

Wie finde ich die richtige Balance im Kursgeschehen?

Das kennt jeder Kursleitende: Die Zielgruppe ist analysiert, der Kurs ist geplant und beginnt. Und alles kommt anders: Die Teilnehmenden äußern Wünsche, die in der Planung nicht berücksichtigt wurden oder ihre Erfahrungen sind andere, als vermutet. Jetzt ist Teilnehmerorientierung gefragt. Aber wie kann sie gelingen? Welche unterschiedlichen Ausprägungen von Teilnehmerorientierung gibt es? Und welche Methoden können dabei helfen? 

DefinitionWas ist das?

Teilnehmerorientierung ist das didaktische Prinzip, den Unterricht an den Bedürfnissen, Interessen und Erfahrungen der Teilnehmenden auszurichten. Der Begriff „Teilnehmerorientierung“ bezieht sich auf die Durchführung der Lehr-Lernprozesse. Die teilnehmerorientierte Planung einer Veranstaltung wird hingegen mit dem Begriff der „Zielgruppenorientierung“ beschrieben. Teilnehmerorientierung bedeutet also, dass die Lehrkraft im Verlauf eines Kurses oder einer Veranstaltung immer wieder prüft, ob sie die Bedürfnisse, Interessen und Erfahrungen der Teilnehmenden noch berücksichtigt. Ist das nicht der Fall, muss die Lehrkraft im Sinne der Teilnehmerorientierung neu planen und andere Methoden oder Inhalte auswählen. Sowohl in der Theorie als auch in der Praxis der Erwachsenenbildung gilt die Teilnehmerorientierung als Leitprinzip.

GeschichteWoher kommt das?

Bereits in den 1920er Jahren plädierte Alfred Mann, Leiter der VHS Breslau, für eine „Didaktik vom Ich-Gesichtswinkel der Teilnehmer/innen her“ (Siebert 2009, S. 108). Auch die Vertreter der „neuen Richtung“ der Volksbildung zur Zeit der Weimarer Republik setzten sich für Methoden ein, die sich an den individuellen Bedürfnissen der Teilnehmenden orientierten (vgl. Luchte, 2012, S. 19). In den 1970er Jahren gewann das Thema in der Erwachsenenbildung erneut an Bedeutung: Teilnehmerorientierung wurde damals als „Zielgruppenorientierung” verstanden, die die potentiellen Teilnehmenden im Planungsprozess berücksichtigte. So ging z.B. der Erwachsenenbildner Hans Tietgens davon aus, dass Veranstaltungen für eine bestimmte Zielgruppe angeboten werden sollten – und dass das Teilnehmerorientierung sei.

In den 1980er Jahren wurde das Prinzip der Teilnehmerorientierung weiterentwickelt: Es wurde gefordert, den Bedürfnissen, Interessen und Erfahrungen der Teilnehmenden auch im Verlauf der Veranstaltung zu begegnen.

Heute bedeutet Teilnehmerorientierung, dass Partizipation, also die Beteiligung der Teilnehmenden bei Zielen, Inhalten und Methoden erreicht werden soll. 

MerkmaleWie geht das?

Da die Teilnehmerorientierung in der Erwachsenenbildung ein zentrales Prinzip ist, müssen die Erwartungen, Voraussetzungen, und Bedürfnisse stärker berücksichtigt werden als die Lerninhalte.

Teilnehmerorientierung bezieht sich auf die Erfahrung und die Biografie der Teilnehmenden. Das bedeutet, dass die Inhalte, Ziele und Methoden einer Lehrveranstaltung von den Teilnehmenden aus, auf die Teilnehmenden hin und mit den Teilnehmenden gemeinsam bestimmt – und nicht allein von der Lehrkraft festgelegt werden. Vielmehr sollen die Teilnehmenden in den Entscheidungsprozess einbezogen werden. Insofern ist Teilnehmerorientierung – versteht man die Erwachsenenbildung als Demokratisierungsinstanz – eng verbunden mit dem Ideal der Partizipation.

Teilnehmerorientierung wird in der Praxis der Erwachsenenbildung hinsichtlich ihrer Funktion jedoch teilweise sehr unterschiedlich interpretiert wird. So wird sie abwechselnd verstanden als

  • Information der Teilnehmenden über die Ziele der Lehrkraft,
  • Orientierung an gesellschaftlichen Voraussetzungen,
  • Aktivierung, Mitwirkung und Selbststeuerung der Teilnehmenden oder
  • Orientierung an persönlichen Zielen der Teilnehmenden.

(vgl. Luchte, 2012, S. 20). 

HandlungsfelderWo brauche ich das?

Zur Teilnehmerorientierung gehört nach David E. Hunt das „reading“ und „flexing“ im Umgang mit Teilnehmergruppen. „Reading“ bedeutet, dass man die Gruppe aufmerksam „liest“, wahrnimmt und spürt, was im Raum, in der Gruppe oder beim Einzelnen passiert. Das gelingt durch genaues Beobachten. „Flexing“ hingegen meint, dass man auf Situationen flexibel und kompetent reagiert (Holm, 2012, S. 11). Je größer die Methodenkompetenz, desto leichter wird das „flexing“. Stellt sich also im Verlauf einer Veranstaltung heraus, dass die Teilnehmenden andere Erwartungen haben, sollte die Lehrkraft darauf reagieren und gemeinsam mit den Teilnehmenden das weitere Vorgehen planen. Das „reading” kann unterstützend durch den Einsatz von passenden Methoden, zum Beispiel Partnerinterviews, Erwartungsabfragen oder Feedback erfolgen. 

Es ist von der Lehrkraft, dem Inhalt, der Gruppe und den Rahmenbedingungen bzw. den Vorgaben der Auftraggeber abhängig, wie ausgeprägt die Teilnehmerorientierung sein kann. Nicht nur die Haltung der Lehrkraft gegenüber ihren Teilnehmenden, auch ihre diesbezügliche Kompetenz bestimmt den Grad der Teilnehmerorientierung. So kann es sein, dass auch die Lehrkraft einen Lernprozess durchläuft, der Grad der Teilnehmerorientierung steigt und so die Lernenden vermehrt die Verantwortung für ihr Lernen übernehmen. 

Vor allem heterogene Lerngruppen  überfordern womöglich die Lehrkräfte, da diese eine hohe Anforderungen an die Fähigkeit zur Teilnehmerorientierung stellen. Aber gerade hier sollte sie praktiziert werden, um den Lernenden gerecht zu werden. Konsensverfahren bieten die Möglichkeit eine Lösung zu finden, denen die Teilnehmenden und die Lehrkraft zustimmen können. 

Mitunter lösen Konsensverfahren auch einen weiteren Lernprozess bei den Teilnehmenden aus: Nicht alle sind Mit- und Selbstbestimmung im Lernprozess gewöhnt; einige wünschen es sich womöglich gar nicht erst. 

DiskussionWas wird diskutiert?

Bezüglich der Teilnehmerorientierung wird diskutiert, wie sie im Zusammenhang mit selbstgesteuertem Lernen, der konstruktivistischen Didaktik sowie den Erkenntnissen der Neurowissenschaften gestaltet werden kann. Ist Lernen primär selbstgesteuert, bedeutet Teilnehmerorientierung, Angebote zu machen, die zum Lernen motivieren. Betrachtete man Teilnehmerorientierung konstruktivistisch, rückt die „Anschlussfähigkeit” in den Vordergrund: Die Lehrkraft soll vor allem an den Erfahrungen der Teilnehmenden ansetzen und zusätzlich ermöglichen, Wissen mit Handeln zu verbinden.

Durch die Neurowissenschaften wissen wir, dass das Gehirn vor allem auf Wissen, das neu ist, Wissen, das anschlussfähig ist, und Wissen, das persönlich und gesellschaftlich relevant ist, reagiert (Siebert, 2012, S. 95ff.). 


Service

Zur Reflexion

Wie erreichen Sie Teilnehmerorientierung in Ihrer Praxis? Notieren Sie Ihre Gedanken dazu.

Literaturliste

  • Hubertus, P. (2010). Teilnehmerorientierung und das Verhältnis von Lehren und Lernen. ALFA-Forum – Zeitschrift für Alphabetisierung und Grundbildung, (74). 3840
    Hubertus schildert sehr praxisorientiert die Notwendigkeit und Möglichkeiten von Teilnehmerorientierung in Alphabetisierungskursen.
  •  Luchte, K. (2012). Teilnehmerorientierung als zentrales Prinzip der Erwachsenenbildung. Education Permanente (3). 1921
    Luchtes Artikel fasst wichtige Aspekte der Teilnehmerorientierung zusammen und gibt Anregungen für die Praxis.
  •  König, H., & Volmer, G. (2005). Systemisch Denken und Handeln. Personale Systemtheorie in Erwachsenenbildung und Organisationsberatung. Weinheim und Basel: Beltz.
    Im Kapitel über Teilnehmerorientierung werden praktische Tipps und Vorgehensmöglichkeiten gegeben. Auch problematische Situationen werden diskutiert und Vorgehensweisen dafür angeboten. Methoden zur Konsensfindung runden diese Vorschläge ab.

Quellen

Holm, U. (2012). Teilnehmerorientierung als didaktisches Prinzip der Erwachsenenbildung – aktuelle Bedeutungsfacetten. Abgerufen von www.die-bonn.de/doks/2012-teilnehmerorientierung-01.pdf (04.05.2015)

Hubertus, P. (2010). Teilnehmerorientierung und das Verhältnis von Lehren und Lernen. ALFA-Forum – Zeitschrift für Alphabetisierung und Grundbildung (74), 3840

König, H., & Volmer, G. (2005). Systemisch Denken und Handeln. Personale Systemtheorie in Erwachsenenbildung und Organisationsberatung. Weinheim und Basel: Beltz.

Luchte, K. (2012). Teilnehmerorientierung als zentrales Prinzip der Erwachsenenbildung. Education Permanente (3), 1921

Siebert, H. (2009). Didaktisches Handeln in der Erwachsenenbildung. Didaktik aus konstruktivistischer Sicht (6. Aufl.). Augsburg: Ziel.

Siebert, H. (2015). Erwachsene – lernfähig aber unbelehrbar? Schwalbach: Wochenschau.


Das könnte Sie auch interessieren

Passende Wissensbausteine

Passendes Material