Wissensbaustein

Flipped Classroom

„Geflippte” Stunden stellen die Lernenden ins Zentrum

„Flipped Classroom“ heißt ein didaktisches Konzept, das Lerninhalte vor der Präsenzveranstaltung in aufbereiteter Form – insbesondere als Video – zur Verfügung stellt und die gemeinsame Zeit im „Klassenraum“ für Praxis und Anwendung nutzt. „To flip something” bedeutet im Englischen „etwas umdrehen“ – vereinzelt wird das Konzept des Flipped Classroom auch als „umgedrehte Lehre” (inverted classroom) bezeichnet. Was genau ist neu an diesem Konzept und wie wird es in der Praxis angewandt?

DefinitionWas ist das?

Flipped Classroom hat zum Ziel, mehr Raum für interaktive Zusammenarbeit mit den Lernenden zu schaffen und die klassischen Erklärphasen aus dem Frontalunterricht in das Selbststudium zu verlagern (Kim et al., 2014). Im ursprünglichen Konzept des Flipped Classroom tritt die/der Lehrende selbst im Video oder Audio auf (Mattis, 2015), es kann aber durchaus auch Material mit anderen Akteurinnen und Akteuren angeboten werden.

Das, was sonst in der Veranstaltung stattfindet – nämlich oft das Erklären und Vorstellen neuer Inhalte – soll nach draußen, in die Vorbereitungszeit der Lernenden verlagert werden. Das, was in Veranstaltungen oft zu kurz kommt, nämlich die Vertiefung, die Übung und die Auseinandersetzung der Lernenden mit den Inhalten, soll dort stattfinden, wo auch Lehrende da sind, um dies zu begleiten (Jeong et al., 2016). Das ist mit „Flippen“ gemeint (Roach, 2014). 

Hinter dem Konzept stehen bestimmte Aspekte der pädagogischen Psychologie, bei denen davon ausgegangen wird, dass es höher- und weniger höherwertige kognitive Prozesse gibt (Gilboy et al, 2015). Weniger höherwertige Prozesse sind demnach Erinnern und Verstehen, höherwertige Prozesse Analysieren und Kreieren von Inhalten (Hao, 2016). Im klassischen Unterricht wird oft der Fokus auf das Verstehen gelegt und die höherwertigen kognitiven Prozesse wie die Analyse wird den Lernenden selbst überlassen. Mittels der Flipped-Classroom-Konzepte sollen die Lernenden die unteren Stufen dieser Lernzielhierarchie selbst in ihrem eigenen Tempo erreichen können, um dann mit den Lehrenden zusammen insgesamt höherwertige Lernziele zu erreichen. In den meisten individuellen Vorbereitungsphasen werden Videos eingesetzt.

GeschichteWoher kommt das?

In vielen Fächern und Lehrveranstaltungen gab es schon immer die Vorgabe, sich vorzubereiten, beispielsweise durch das Lesen von Texten. Diese Lernformen haben aber mit Flipped-Classroom-Konzepten nur wenig gemeinsam, da in der traditionellen Plenumsphase relativ lehrerzentrierte Diskussionsformen vorherrschen (Hao, 2016). Die Plenumsphase des Flipped Classroom hingegen ist lernerzentriert und setzt auf Individualisierung beispielsweise durch mehr Übungsphasen oder interaktive Methodenvielfalt.

Eine neue Popularität erlangte die Methode dadurch, dass seit den 2000er Jahren Lehrende Videos einfacher erstellen und verteilen können. Das Video-Format bietet im Vergleich zur rein textlichen Vorbereitung andere didaktische Möglichkeiten, etwa das Veranschaulichen eines naturwissenschaftlichen Phänomens oder die Veranschaulichung von gesellschaftspolitischen Themen und Theorien durch das Zeigen von Beispielen (Mattis, 2015).

MerkmaleWie geht das?

Das Konzept unterteilt die Beschäftigung der Lernenden mit den Inhalten in zwei Phasen: eine individuelle Vorbereitungsphase und die Präsenzveranstaltung (Tab. 2; Kim et al., 2014).

Die Methode Flipped Classroom ist streng genommen nur dann für die eigenen Veranstaltungen geeignet, wenn die/der Lehrende in mehreren Präsenzterminen mit den Lernenden zusammenarbeitet und davon ausgehen kann, dass die Aufforderung zur Vorbereitung umgesetzt wird. Selbstständige Vorbereitungsphasen stellen hohe Anforderungen an die Selbstdisziplin der Lernenden (Lai & Hwang, 2016). Das kann insbesondere in der Erwachsenenbildung eine große Herausforderung sein, wenn ein verbindlicher Rahmen durch Prüfungen o.Ä. fehlt.

Erfolgreich können diese Konzepte nur dann sein, wenn die Lernenden sich auch wirklich vorher vorbereiten – es ist Aufgabe des Lehrenden, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen (Porcaro et al., 2016).

 Da die Präsenzphase deutlich interaktiver sein soll als in klassischen Erklär- und Diskussionsveranstaltungen, ist hier eine größere Variation der Methoden erforderlich, die unter Umständen auch mehr Vorbereitung erfordert (Porcaro et al., 2016). Zu Beginn steht oft die Frage nach Verständnisfragen oder Problemen mit dem Material. Zum Aufwärmen können auch die Leit- oder Wiederholungsfragen der/des Lehrenden besprochen werden. Darüber hinaus hängt es natürlich stark vom Thema ab, welche Methoden (Tab. 3) genutzt werden.

HandlungsfelderWo brauche ich das?

Handelt es sich nur um eine einmalige Veranstaltung (z.B. einen einzelnen Termin) oder kommen zu jeder Veranstaltung andere Teilnehmende, wie das beispielsweise bei einer Veranstaltungsreihe zu verschiedenen Aspekten eines komplexeren Themas oft der Fall ist, sind Flipped-Classroom-Konzepte weniger gut geeignet. In diesen Fällen kann erfahrungsgemäß nicht davon ausgegangen werden, dass die Teilnehmenden individuelle Vorbereitungszeit im Hinblick auf die Präsenzveranstaltung einplanen und sich den Aufgaben und Materialien im Vorfeld zuwenden.

Für Dozenten ist der Vorbereitungsaufwand recht hoch – deshalb ist es ratsam, ein Flipped-Classroom-Konzept für Veranstaltungen zu konzipieren, die häufiger mit ähnlichen Zielgruppen durchgeführt werden. Der Aufwand lohnt aber, da die Zusammenarbeit mit den Lernenden intensiver wird und Lernziele besser erreicht werden, wie Lehrende berichten, die Filpped Classroom praktizieren (Roach, 2014).

 Methoden, die in den Präsenzveranstaltungen eingesetzt werden können, wenn vorher eine Selbstlernphase stattgefunden hat, umfassen beispielsweise (Mattis, 2015):

  •  Gemeinsames Bearbeiten von Aufgaben: Die Lernenden bekommen Arbeitsaufträge und können alleine oder in Gruppen Lösungen erarbeiten, die dann im Plenum besprochen werden. Die/der Lehrende begleitet die Arbeitsphasen durch individuelle Beratung.
  • Transferübungen: Die Lernenden bekommen Fallbeispiele und sollen Lösungsszenarien entwickeln, vorstellen und diskutieren.
  • Rollenwechsel: Die Lernenden können für einzelne Aspekte des Themas die Rolle des Moderierenden übernehmen und ihre Leifragen im Plenum oder kleineren Gruppen diskutieren lassen.
  • Praktische Übungen: Die Lernenden können zeitlich aufwendigere Anwendungen durchführen, für die sonst zu wenig Raum ist.

„Geflippt“ werden immer einzelne Präsenzveranstaltungen, so dass über einen Kurs mit mehreren Terminen flexibel entschieden werden kann, welche Termine nach dieser Methode durchgeführt werden. Die/der Lehrende entscheidet, welche Inhalte in der Selbstlernphase vermittelt werden, und wie viel Zeit die Lernenden investieren sollen. Hat die/der Lehrende das Material ausgewählt, erläutert er/sie das Konzept des Flipped Classrooms der Lerngruppe in der Veranstaltung. Für Lernende ist es in der Regel einfacher, wenn zusätzlich zum Material auch Leitfragen gegeben werden, damit sie wissen, worauf sie achten sollen (Kim et al., 2014). Grundsätzlich ist eine Überforderung der Lernenden zu vermeiden: Zu viele Inhalte können schnell zum sogenannten Soldatentum-Effekt (s. Kasten)  führen. 

DiskussionWas wird diskutiert?

In der Forschung wird besonders die Lernwirksamkeit des Flipped Classroom diskutiert (Kim et al., 2014; Mattis, 2015). Hierbei gilt als wesentlicher Vorteil von Flipped Classroom, dass die Lernenden sich die Inhalte in ihrem eigenen Tempo erarbeiten können. Videos oder Audios können beliebig oft angesehen bzw. angehört werden. Lernende werden auch dazu animiert, direkt zu recherchieren, was ihnen nicht klar ist. Auch im Nachhinein stehen diese Inhalte zur Verfügung, beispielsweise zur Vorbereitung auf eine Prüfung. Im Hinblick auf die Präsenzveranstaltung hat die/der Lehrende mehr Zeit für vertiefende Diskussionen oder die praktische Anwendung. Insgesamt kann sie/er mehr auf die Bedürfnisse der Lernenden eingehen, da viel Zeit gespart wird, wenn die Einführung in neue Inhalte wegfällt (Roach, 2014).

 Dem gegenüber stehen vor allem organisatorische Nachteile, die ebenfalls in der Forschungsliteratur zusammengetragen wurden:

  • Der Aufwand der Vorbereitung ist zumindest beim ersten Mal für die/den Lehrenden hoch, da das Material zusammengestellt oder hergestellt werden muss (im Fall von eigenen Videos bzw. Audios) (Gilboy et al., 2014).
  • Nachfragen der Lernenden sind nicht unmittelbar möglich, sondern müssen bis zum Präsenztermin „warten“ (Lai & Hwang, 2016).
  • Im Fall von geringerer Verbindlichkeit in der Lerngruppe kann es sein, dass nur ein Teil die Vorbereitung überhaupt macht. Das führt bei der Präsenzveranstaltung dazu, dass die Vorkenntnisse extrem unterschiedlich sind (Hao, 2016).

  Da die konkrete Ausgestaltung oft sehr unterschiedlich ist, gibt es wenige Forschungsergebnisse, die sich auf alle konkreten Anwendungen übertragen lassen. Die Ergebnisse lassen darauf schließen, dass die Akzeptanz von Flipped Classroom durch die Lernenden im prüfungsorientierten Bildungskontext (gemeint sind Schule und Hochschule) sehr hoch ist (Lai & Hwang, 2016; Mattis 2015). Ob tatsächlich mit dieser Methode mehr oder andere Lernziele erreicht werden, ist noch ungeklärt bzw. die Ergebnisse der Forschung sind dahingehend uneinheitlich (Hao, 2016). Oft wurden auch nur sehr kleine Lernergruppen untersucht, so dass eine Übertragung der Ergebnisse schwierig ist.

Internationale BezügeWie sieht man das woanders?

Flipped-Classroom-Modelle werden in vielen Ländern überwiegend in der Hochschulbildung, aber inzwischen vermehrt auch in der Schule, eingesetzt. Besondere Verbreitung hat das Konzept in den USA gefunden, wie die folgenden Beispiele illustrieren:

 In einer US-amerikanischen Highschool in Byron (MN) wurden über Jahre hinweg sinkende Leistungen der Schülerinnen und Schüler in Mathematik festgestellt. Aufwendige Förderprogramme waren wegen Budgetkürzungen im Zuge der internationalen Finanzkrise 2008/09 nicht möglich. So entschloss sich die Schule sowohl zur Einführung von Flipped-Classroom-Konzepten als auch zur verstärkten Nutzung von Open-Source-Materialien. Nach internen Erhebungen der Schule verdoppelte sich bei 75 Prozent der die Schule Besuchenden die Leistungen in Mathematik (Byron High School, 2013).

 An Hochschulen finden Flipped-Classroom-Modelle viel in natur- und ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen Anwendung. Ziel ist hier oft, die Interaktion der Studierenden untereinander zu fördern, weil die individuelle Betreuung durch Dozenten wegen der großen Gruppengröße schwierig ist. So hat die California State University (Los Angeles) konsequent im Bereich Digital Engineering Flipped-Classroom-Modelle umgesetzt und damit kollaboratives projektorientiertes Lernen in den Präsenzveranstaltungen ermöglicht (Hamdan et al., 2013). Untersuchungen ergaben eine höhere Zufriedenheit der Studierenden und die Verankerung von Kompetenzen (Jeong et al, 2016; Porcaro et al., 2016).


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Service

Verwandte Begriffe

inverted classroom, umgedrehter Unterricht

Zur Reflexion

  • Schreiben Sie auf, in welchen Ihrer Veranstaltungen Sie gerne mehr Übungen oder Anwendungen machen würden, es aber aus Zeitgründen unterlassen. Dies können erste Ideen für eine Flipped-Classroom-Veranstaltung sein.
  • Nehmen Sie sich eine einzelne Präsenzveranstaltung vor und notieren Sie, welchen Anteil Ihre „Erklärphasen“ haben und überlegen Sie, ob man das nicht vorher in einem Video für die Teilnehmenden vermitteln könnte.

Literaturliste

  • Brame, C.J. (o.J.). Flipping the classroom . Abgerufen von https://cft.vanderbilt.edu/guides-sub-pages/flipping-the-classroom (10.08.2016).
    Ausführliche Darstellung des Konzepts mit theoretischem Hintergrund und Anwendungsbeispielen.
  • Ebel, C. (2014). Drei Berliner Schulen experimentieren mit Flipped Classroom. Abgerufen von www.vielfalt-lernen.de/2014/03/17/geruehrt-oder-geschuettelt-drei-berliner-schulen-experimentieren-mit-dem-flipped-classroom (09.08.2016).
    Ermutigendes Beispiel aus der Praxis.
  • Educause (2012). 7 things you should know about flipped classrooms. Abgerufen von https://net.educause.edu/ir/library/pdf/ELI7081.pdf (25.07.2017).
    Überblick über die wichtigsten Elemente von Flipped Classroom sowie Vor- und Nachteile.
  • Spannagel, C. (2011). Die umgedrehte Mathematikvorlesung (ein Beispiel). Abgerufen von https://cspannagel.wordpress.com/2011/08/07/die-umgedrehte-mathematikvorlesung/ (25.07.2016).
    Knappe, lebendige Einführung in das Thema mit verlinkten Beispielen und weiterführenden Literaturhinweisen.

Quellen

Aronson, N., Arfstrom, K.M., & Tam, K. (o.J.): Flipped Learning in Higher Education. Abgerufen von http://flippedlearning.org/wp-content/uploads/2016/07/HigherEdWhitePaper-FINAL.pdf (10.08.2016)

Byron High School (2013). Flipped Learning Model Increases Student Engagement and Performance. Abgerufen von http://www.sharpsville.k12.pa.us/Downloads/Byron_standalone_casestudy.pdf (10.08.2016)

Flipped Classroom. Eintrag im ZUM-wiki, Stand: 07.12.2015. Abgerufen von https://wiki.zum.de/wiki/Flipped_Classroom (25.07.2016)

Gilboy, M.B., Heinrichs, S. & Pazzaglia, G. (2014). Enhancing Student Engagement Using the Flipped Classroom. Journal of Nutrition Education and Behavior, 47 (1)

Goodwin, B., & Miller, K. (2013). Research Says. Evidence on Flipped Classroom is Still Coming in. Educational Leadership, 70 (6), 78–80. Abgerufen von http://www.ascd.org/publications/educational-leadership/mar13/vol70/num06/Evidence-on-Flipped-Classrooms-Is-Still-Coming-In.aspx (25.07.2016)

Hamdan, N. et al. (2013). A review of flipped learning. Abgerufen von http://flippedlearning.org/wp-content/uploads/2016/07/LitReview_FlippedLearning.pdf (09.08.2016)

Hao, Y. (2016). Middle school students’ flipped learning readiness in foreign language classrooms: Exploring its relationship with personal characteristics and individual circumstances. Computers in Human Behavior, 59, 295–303.

Jeong, J.S., González-Gómez, D. & Canada-Canada, F. (2016). Students’ Perceptions and Emotions Toward Learning in a Flipped General Science Classroom. DOI 10.1007/s10956-016-9630-8.

Kim, M.K. et al. (2014). The experience of three flipped classrooms in an urban university: an exploration of design principles. Internet and Higher Education, 22, 37–50.

Lai, C.-L. & Hwang, G.-J. (2016). A self-regulated flipped classroom approach to improving students’ learning performance in a mathematics course. Computers & Education, 100, 126–140.

Mattis, K.V. (2015). Flipped Classroom Versus Traditional Textbook Instruction: Assessing Accuracy and Mental Effort at Different Levels of Mathematical Complexity. Tech Know Learn, 20, 231–248.

o.A. (o.J.). The Flipped Learning Model: Executive Summary. Abgerufen von http://flippedlearning.org/wp-content/uploads/2016/07/ExecSummary_FlippedLearnig.pdf (25.07.2016)

Porcaro, P. et al. (2016). Curriculum Design of a Flipped Classroom to Enhance Haematology Learning. J Sci Educ Technol, 25, 345–357.

Roach, T. (2014). Student perceptions toward flipped learning: New methods to increase interaction and active learning in economics. International Review of Economics Education, 17, 74–84.

Rummler, K. (Hrsg.) (2014). Lernräume gestalten – Bildungskontexte vielfältig denken. Münster, New York: Waxmann. Abgerufen von https://www.waxmann.com/fileadmin/media/zusatztexte/3142Volltext.pdf (10.08.2016)

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Treek, T. v., Himpsl-Gutermann, K., & Robes, J. (2013). Offene und Partizipative Lernkonzepte. E-Portfolios, MOOCs und Flipped Classrooms. In: M. Ebner; S. Schön (Hrsg.), Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien Bims e.V. Abgerufen von http://l3t.tugraz.at/HTML/offeneslernen/1377616155flipped-classroom/ (10.08.2016)


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