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Webinar: Alphabetisierungsarbeit in der Praxis – Podiumsdiskussion

Am 9.3.2017 fand eine Online-Podiumsdiskussion zum Thema Alphabetisierungsarbeit in der Praxis statt. Ehrenamtliche, die sich damit beschäftigen, Menschen, die entweder die lateinische Schrift nicht beherrschen oder auch noch nie in ihrem Leben eine Schule besucht haben, Lesen, Schreiben und die deutsche Sprache beizubringen, sprechen über diese Tätigkeit.

Geleitet wurde die Diskussion von Angelika Güttl-Strahlhofer, der Projektkoordinatorin des Dossiers „Sprachbegleitung einfach machen!“. Am Podium saßen:

Evelyn Sarbo, Trainerin u. a. beim Katholischen Bildungswerk Köln e.V. Das Bildungswerk bietet neben Sprachkursen für Geflüchtete (640 Kurse im Jahr 2016) auch Qualifizierungsangebote für Ehrenamtliche wie z.B. den „Sprachanker“ (2016) an. Siehe auch ihren Dossierbeitrag „Es gilt Sprechen vor schreiben“, in dem sie über ihre Arbeit als Trainerin für Ehrenamtliche in der Alphabetisierung berichtet.

Sarah Wolfertstetter, Redakteurin für Unterrichtsmaterial bei der SchlaU-Werkstatt für Migrationspädagogik. Im Dezember 2016 wurde der SchlaU-Ordner zur Alphabetisierung veröffentlicht und war nach wenigen Tagen bereits vergriffen. Derzeit (März 2017) steht die zweite Auflage zur Verfügung.  Zudem werden Fortbildungen zur Alphabetisierung etc. angeboten.

Marlis Schedler, Vortragende an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg. Sie erarbeitete ein Konzept für Studierende und Lehrpersonen, die mit Flüchtlingen arbeiten. Siehe auch ihre Dossierbeiträge Soll ich mich jetzt auch noch mit Arabisch und Dari beschäftigen?  und Welche fünf Tools möchte ich für d Wortschatzarbeit nicht missen?.

Bevor die Diskussion startet, wird auf die unterschiedlichen  Arten von Alphabetisierungsbedarfen hingewiesen:

  • Erstalphabetisierung
  • Zweitschrifterwerb
  • Funktionaler Analphabetismus

Mehr dazu finden Sie im Dossierbeitrag der Checkliste: Alphabetisierungsbedarf erkennen und unterscheiden 

Gerade der Bereich der Alphabetisierung gilt als besonders herausfordernd. Warum arbeiten Ehrenamtliche dann eigentlich in diesem Bereich?

Sarbo: Die Nachfrage war sehr groß, so groß, dass sie mit herkömmlichen  Angeboten in den Ballungsräumen nicht mehr abgedeckt werden konnte. Im ländlichen Bereich gab es einfach zu wenige Angebote. Der Einsatz von Ehrenamtlichen war eine Hilfe, um den Ansturm aufnehmen zu können. Diese Lücke haben Ehrenamltiche gefüllt, mit all den Schwierigkeiten, die damit verbunden sind. Sie wurden ins kalte Wasser gestoßen und haben auch schnell festgestellt, dass sie nicht über das notwendige Rüstzeug verfügen und dringend Qualifizierungsmaßnahmen  benötigen.

Schedler: Unser Konzept sieht vor, dass sich eine Ehrenamtliche um zwei Geflüchtete kümmert. Bei der Betreuung merkte man dann, dass diese Personen keinen Kurs zugeteilt bekommen. Man sagte sich: „Die können doch nicht fünf Monate oder noch länger warten!“ Und dann startet man halt selbst mit ihnen. Aber natürlich stellt sich die Frage, ob die Alphabetisierung nicht mit von speziell Ausgebildeten durchgeführt werden sollte. Ich selbst habe viel Zeit in Weiterbildung gesteckt. (Siehe Marlis Schedlers Dossierbeitrag: Deutsch unterrichten kann ich, oder doch nicht?)

Warum soll man sich denn insbesondere um jene kümmern, die zu alphabetisieren sind?

Wolfertstetter: Ich kann insbesondere über unsere Zielgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen sprechen, die 16-20 Jährigen. Die haben noch so viel vor sich. Es geht nicht darum, dass sie hier sind und irgendeine Tätigkeit ausüben können, sondern dass sie etwas erreichen können. Wenn sie einen Schulabschluss machen, kann das noch so viel bewirken und sie können gut in den Arbeitsprozess integriert werden.

Kennen Sie Zahlen zu nicht alphabetisierten Geflüchteten oder Migrantinnen und Migranten?

Schedler: Zahlenmaterial ist kaum vorhanden. Für Österreich gibt es unterschiedliche Studien zum funktionalen Analphabetismus, da reichen die Zahlen von 1 Prozent über 5 Prozent bis zu 17 Prozent. Die 17 Prozent aus der PIAAC-Studie haben natürlich für einen großen Aufschrei gesorgt, weil die ja alle durch das Schulsystem gegangen sind. Da sind aber keine neu Hinzugezogenen dabei. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass in dem Haus, das wir betreuen, circa ein Drittel der Geflüchteten nicht lesen und schreiben können. 

Sarbo: Die von Kollegin Schedler angesprochene Studie schreibt über knapp 15 % funktionalen Analphabetisimus in Deutschland (bei Muttersprachlern). Die neu Hinzugezogenen sind noch nicht erfasst. Das sind erschreckende Zahlen, auch weil es offensichtlich diesen Leuten gelingt, sich durch das Schulsystem durchzuwursteln. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass viele funktionale Analphabetinnen und Analphabeten gelernt haben, das gut zu überspielen und Strategien entwickelt haben, die es Lehrpersonen mitunter schwer machen, das festzustellen.

Wolfertstetter: Auch mir sind die Studien zum funktionalen Analphabetismus bekannt. Zu Zweitschriftlernenden kenne ich keine Studien. Wir wären auch sehr an Zahlenmaterial dazu interessiert.

Bietet Ihre Organisation Fortbildung für Ehrenamtliche an?

Sarbo: Menschen zu alphabetisieren ist herausfordernd, insbesondere wenn man noch wenig oder keine Lehrerfahrung hat. Umso mehr deshalb, weil es im Alphabetisierungsbereich wenige umfassende Lehrwerke gibt. Das bedeutet, dass man sich das Material selbst zusammenstellen muss, und das braucht Erfahrung. Wir haben den Sprachanker entwickelt, dabei handelt es sich um ein Kursangebot mit einer Handreichung für Ehrenamtliche in der Sprachbegleitung.

Wolfertstetter: Wie bieten auch Fortbildung für Ehrenamtliche im Bereich Alphabetisierung an. Die Nachfrage übersteigt bei Weitem das Angebot.

Wie finden Sie heraus, ob bei Menschen, die einen Deutschkurs machen wollen, Alphabetisierungsbedarf besteht?

Sarbo: In unserer Handreichung ist eine Anleitung in vier Schritten zu finden:

  1. Name und Adresse aufschreiben, der Name allein ist trügerisch, weil viele einfach gelernt haben, diesen zu schreiben, obwohl sie eigentlich nicht schreiben können. Wichtig ist auch sicherzustellen, dass es nicht an Sprachschwierigkeiten liegt, dass das Gegenüber der Aufforderung nicht nachkommt. Da wäre es natürlich gut, wenn man einen Dolmetscher dabei haben könnte,
  2. das Herkunftsland in lateinischer Schrift aufschreiben,
  3. international bekannte Wörter – wie Internet oder Taxi – in lateinischer Schrift aufschreiben,
  4. das Herkunftsland in der Muttersprache aufschreiben.

Wenn irgendwie möglich, sollten die einzelnen Zielgruppen, Erstschriftlernende – Zweitschriftlernende und Personen, die „nur“ die Sprache lernen, getrennt unterrichtet werden. Alles andere ist sehr schwierig für die Lehrpersonen, die den unterschiedlichsten Anforderungen in einem Kurs entsprechen sollen.

Schedler:  Wir müssen uns meist schnell entscheiden und haben – eher intuitiv  –  eine ähnliche Vorgangsweise wie beim Bildungswerk gewählt. Sie werden aufgefordert, zuerst etwas auf Englisch zu schreiben. Wenn das nicht geht, auf Farsi oder Dari und aus der Stifthaltung kann man auch schon sehr schnell Rückschlüsse ziehen. Die Personen werden dann probeweise in Gruppen eingeteilt.  Und nach einem Nachmittag werden eventuell Änderungen vorgenommen.

Wolfertstetter: In der SchlaU-Schule erfolgt die Einstufung in mehreren Etappen. Es beginnt mit einem schriftlichen Deutschtest, der auch komplexe Aufgaben enthält, da alles bis zum Schulabschluss abgedeckt werden soll. Wenn man feststellt, dass es schon Probleme bei den ersten beiden Aufgaben gibt, dann können die Testpersonen diesen einfach vorzeitig beenden. Der Test beinhaltet auch einen Mathematiktest, da ist nicht so viel Sprachwissen erforderlich. Desweiteren wird noch ein Gespräch geführt. Da bittet man die Person z.B. ihren Namen zu schreiben.

Frage aus dem Publikum: Was empfinden Analphabeten dabei, wenn Sie schreiben lernen?

Schedler: Es eröffnet sich ihnen eine Welt. Nicht alphabetisiert zu sein, bedeutet nicht, ungebildet zu sein. Manche explodieren dir fast in den Händen, weil sie jetzt alles auf einmal wissen wollen. Das ist sehr schön, das liebe ich an dem Job!

Wolfertstetter: Da kann ich nur zustimmen. Zum Schulende die strahlenden Gesichter zu sehen, zu sehen wie sie so viel Selbstvertrauen erhalten haben und zu sich sagen: „Hey, ich kann jetzt alles erreichen!“, das ist wunderschön. Vielleicht ist das der Grund, warum wir das alle so gerne machen.

Sarbo:  Auch ältere Personen, die schon selbst aufgegeben haben und dann feststellen, dass sie doch noch Schreiben lernen können, sind sehr dankbar und es wird auch von den Lehrpersonen als sehr bereichernd empfunden.

(Lesen Sie dazu auch den Dossierbeitrag Ein besonderes Ehrenamt: Erwachsenen lernen Lesen und Schreiben.)

Woran erkennt man gutes Lehrmaterial?

Schedler: Man kann im Lehrwerk ein Konzept erkennen. Es werden die Worte mit Artikeln angegeben und es wird eine einfache Sprache verwendet. Die ersten Lektionen bestehen nicht nur darin, Schwungübungen zu machen, sondern beinhalten auch Chunks wie z.B. „Kann ich deinen Stift haben?“, “Ja, gerne!“, usw. Die Auswahl der Themen geht auf die Zielgruppe der Geflüchteten ein z.B. beim Thema Familie. Auch Themen wie Urlaub oder Reisen sind anders zu behandeln.

Wolfertstetter: Genau! Lebensweltbezug ist wichtig. Es geht nicht nur darum, die Buchstaben zu lernen, sondern auch darum die Sprache zu lernen. Nicht nur A und B lernen, sondern einkaufen gehen, zur Apotheke gehen, das muss auch beinhaltet sein.

Sarbo: Vorhandene Lehrwerke bauen auf der Buchstabenkenntnis auf. Das allein reicht nicht aus, es braucht zusätzliches Material. Mittlerweile gibt es gutes Material auch im Internet. Das bedeutet aber, dass man sich intensiv damit befassen muss. Mit der Zeit lernt man auch, während der Lehrsituation zu erkennen, welche Inhalte für die einzelnen Personen wichtig sind, und passt diese entsprechend an.

Frage aus dem Publikum: Was halten Sie davon, Bildwörterbücher zur verwenden?

Sarbo: Ich habe damit gute Erfahrungen gemacht. Es gibt mittlerweile eine Auswahl an visuellen Wörterbüchern, manche auch zweisprachig. Das hilft zwar den Analphabeten nicht, unterstützt aber den visuellen Lernkanal. Ich halte auch viel davon, persönliche Lernkarteien zu erstellen: Auf eine Seite das Bild kleben, auf die andere Seite das Wort schreiben und so für eine erste Lernendenautonomie zu sorgen. Mit diesen Karten kann man auch Memory spielen.

Was ist Ihr Abschlusstipp für ehrenamtliche Sprachbegleiter und Sprachbegleiterinnen?

Sarbo: Sprachbegleiter zu bestärken, sich nicht aus dem Konzept bringen lassen, auch wenn sich die Erfolge nicht so schnell zeigen. Sich nicht entmutigen zu lassen!

Schedler: In jeder Lektion lerne ich ein arabisches Wort – und da merkt man schon, wie schwierig das ist. Und die Teilnehmenden lernen 15 oder mehr Worte jedes Mal! Also Geduld haben!

Wolfertstetter: Es dauert, es braucht Zeit. Als Ehrenamtliche die oft zu hohen Erwartungen etwas herunterschrauben und sich nicht entmutigen lassen.

Lesen Sie mehr darüber, wie die einzelnen Organisationen mit dem Alphabetisierungsbedarf ihrer Zielgruppe umgehen: Reality Check – Alphabetisierungsarbeit wird wichtiger.

 

CC BY SA 3.0 DE by Evelyn Sarbo, Marlis Schedler und Sarah Wolfertstetter, zusammengefasst von Angelika Güttl-Strahlhofer für wb-web.de