Sieht so das Lernen der Zukunft aus?

Jede und jeder kann gratis, von überall aus und zu beliebiger Zeit bei und mit den Besten der Welt studieren – mit dieser Verheißung sind die Massiven Offenen Online-Kurse (MOOCs) um das Jahr 2012 herum angetreten. Seitdem haben Erfolge und Pleiten deutlich gemacht, was von dieser Verheißung in der beruflichen Wirklichkeit bleibt. Jörn Loviscach ist Professor für Ingenieurmathematik und technische Informatik an der FH Bielefeld.  Seine Forschungsinteressen liegen in der Mensch-Computer-Interaktion, in Techniken der Medienproduktion und in der computerunterstützten Lehre. Er ist Autor von 3.000 YouTube-Videos, hat 2012 einen der ersten MOOCs von Udacity geleitet und seitdem vier weitere MOOCs auf mooin veröffentlicht. Er schreibt hier über das Lernen mit MOOCs. Hier geht es zu Teil 1 des Blogbeitrags.

Teil 2

Fernhochschulen des 21. Jahrhunderts

Alle drei großen US-Plattformen bieten Zusammenstellungen von Kursen an – als „Specialization“, „Nanodegree“ oder „XSeries“. Coursera und Udacity sind darüber hinaus in das Geschäft mit vollständigen Studiengängen eingestiegen: Coursera mit Masterprogrammen etwa in Informatik oder Rechnungswesen für Gebühren von etwa 20.000 bis 30.000  US-Dollar, jüngst auch mit einem Bachelorprogramm in Informatik für 10.000 bis 17.000 britischen Pfund, Udacity mit dem Computer-Science-Master des angesehenen Georgia Tech für etwa 7000  US-Dollar. Als Partner sitzt bei letzterem der Telekommunikationsriese AT&T mit im Boot, aus dessen Belegschaft auch viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer stammen. Selbstredend verlangen diese über Coursera und Udacity vermittelten Studiengänge einen entsprechenden (Hoch-)Schulabschluss, sind also weder vom Finanziellen noch von den Voraussetzungen her „offen“, sondern benutzen die Technik der MOOC-Plattformen und profitieren beim Marketing von den benachbarten MOOCs.

Zu Beginn des MOOC-Zeitalters waren die Universitäten darauf bedacht, den Wert ihrer traditionellen Abschlüsse nicht durch damit verwechselbare MOOC-Abschlüsse zu verwässern. Diese Haltung bröckelt allmählich. Selbst das MIT bietet größere Teile von Studiengängen als „MicroMaster Credentials“   relative günstig online an. Hier könnte sich vielleicht wirklich bewahrheiten, dass die MOOCs einen Einschnitt in die hohen US-Studiengebühren bringen – auch wenn Betreuung und Zeugnis Geld kosten, allerdings deutlich weniger als gewohnt.

Im europäischen Raum entwickeln sich die MOOC-Plattformen nur viel zögerlicher in die Richtung formal anerkannter Fernhochschulen: Es besteht ein viel geringerer Druck durch anderswo hohe Studiengebühren. So hatte   iversity als ein Geschäftsmodell verfolgt, zu seinen MOOCs Klausuren an den veranstaltenden Hochschulen gegen Bezahlung anzubieten, mit akkreditierten ECTS-Kreditpunkten und damit in vielen Studiengängen anrechenbar. Offensichtlich hat sich dieses Modell nicht gerechnet.

Deutsche Hochschulen müssen auch „außerhalb des Hochschulwesens erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten“ prüfen und anerkennen (Universität Rostock). Dieser Weg, MOOCs in einem traditionellen Studium zu nutzen, scheint bisher aber höchst selten von Studierenden eingeschlagen zu werden – vielleicht aus Angst vor Missstimmungen mit ihrem lokalen Prüfungsausschuss.

Druck zur Anerkennung von Leistungen in MOOCs auf reguläre Studiengänge kommt seit 2015 aus einer ganz anderen Richtung: Das mit mehreren Millionen Euro Projektmitteln vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und privaten Stiftungen geförderte deutsche Unternehmen Kiron Open Higher Education will Geflüchtete mit Hilfe der Online-Kurse an deutsche Hochschulen bringen.

Themen für Millionen

Zu welchen Themen MOOCs veranstaltet werden, wird mit klarem Blick auf maximale Wirkung entschieden: Das Bild bestimmen konkrete Aufgaben der Softwareentwicklung – insbesondere praxisbezogene Einführungen in die künstliche Intelligenz –, Themen der ersten Studiensemester, rein Praktisches über Office-Programme, viel Populärwissenschaftliches und – gerade in Form von cMOOCs – Kurse über Bildungsfragen.

Die Listen an Kursthemen lesen sich wie ein wilder Mix aus einem Eliteuni-Vorlesungsverzeichnis für Studienanfänger und dem Kurskatalog der lokalen Volkshochschule. Mit einiger Berechtigung könnte man auch offene Mathematik-Brückenkurse wie VE&MINT als MOOCs bezeichnen. Und der Lübecker Plattform mooin gebührt das Verdienst, solche Themen wie „Volleyball-Trainer“ (mehr als 2100 Anmeldungen) und „Erotik“ (etwa 70 Anmeldungen) anzufassen.

Übungen zur Programmierung und zum Rechnungswesen gelingen per Internet relativ problemlos. In der Elektrotechnik hilft auf edX ein Schaltungssimulator, mit dem man seine Basteleien zumindest virtuell testen kann. Bei Themen wie Mechanik oder Chemie hängen die Plattformen einem realen Versuchspraktikum im Labor aber (noch?) deutlich hinterher. Diskussionen und Zusammenarbeit geraten in jedem Fall online zäher – wenn auch flexibler – als von Angesicht zu Angesicht.

Welcher Produktionsaufwand getrieben wird, unterscheidet sich drastisch von Plattform zu Plattform, aber auch von MOOC zu MOOC. Billigstproduktionen bestehen aus Videos von Wort für Wort vorgelesenen Vortragsfolien. Üblich ist es, weitgehend Videos zu haben, in denen Anmerkungen auf PowerPoint-Folien geschrieben werden oder in denen der Stoff auf dem Bildschirm in Handschrift wie auf einer Tafel entwickelt wird. Einige Kurse streben dagegen das geschliffene Aussehen an, wie man es vom Fernsehen gewohnt ist, zu Produktionskosten von mehreren 100.000 Euro.

Schaulaufen der Universitäten

Um die MOOCs herrschte zu Beginn ein inzwischen weitgehend abgeflauter Wettbewerb. Insbesondere Coursera und edX hatten es geschickt verstanden, sich den weltweiten Elite-Universitäten als unverzichtbar darzustellen: Jede Institution von Weltrang muss dabei sein, so die Botschaft, sonst ist sie von gestern. So haben die Plattformen nicht nur von den Universitäten massive Geldbeträge für deren Mitmachendürfen kassiert, sondern einen Sog erzeugt, dem sich zum Schluss kaum jemand widersetzen konnte. Selbst die ETH Zürich und die Universität Oxford sind nach langem Zögern bei edX gelandet, die Universität Cambridge auf der britischen Plattform FutureLearn.

So wie jede Universität, die etwas auf sich hält, anfangs dabei sein musste, so gab es auch einen Wettlauf von Lehrenden darum, in diesem Spiel dabei zu sein. Dieser Wettlauf hat dazu geführt, dass zu viele Kurse viel zu günstig produziert worden sind: Professorinnen und Professoren und vor allem ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben unbezahlte Sonderschichten gefahren, um die Massen zu erreichen – aber auch, um ein bisschen vom Medienrummel abzubekommen.

Die MOOC-Produktion ist ein „teures Signal“: So wie der Pfau mit seinem nichtfunktionalen riesigen farbenprächtigem Federschwanz dem Weibchen zeigt, wie gesund er ist, so zeigt eine Universität mit einer aufwändigen MOOC-Produktion, dass sie es sich locker leisten kann, mehr als die lokalen Studierenden zu versorgen – und zwar gratis.

Selbstdisziplin und mehr verlangt

Ähnliche Signal-Phänomene gibt es auch auf Seite der Teilnehmerinnen und Teilnehmer: Wer ein Dutzend MOOCs mit Zertifikat belegt, beweist damit einem Arbeitgeber vielleicht Können, auf jeden Fall aber eiserne Selbstdisziplin – und Sprachkenntnisse, denn die Auswahl an deutschsprachigen MOOCs ist überschaubar. So finden sich aktuell nur drei deutschsprachige Kurse auf Coursera und nur zwei auf edX. Auch das Angebot an wirklich akademischen Fächern auf den deutschsprachigen MOOC-Plattformen gerät überschaubar.

Die Mehrheit der angemeldeten Teilnehmerinnen und Teilnehmer schaut allenfalls wenige Male in den Kurs hinein. Bis zum Abschlusszertifikat gelangen oft nur wenige Prozent (katyjordan.com). Bei einem populären Kurs auf einer der US-Plattformen sind einige Prozent von mehreren hunderttausend Menschen immer noch ein Vielfaches des Publikums einer großen traditionellen Vorlesung. Bei einem deutschsprachigen Kurs mit 500 Anmeldungen beginnt man aber angesichts solcher Zahlen an der Effizienz zu zweifeln.

Schon im Jahr 2013 hat ein Experiment für Ernüchterung gesorgt: Studierende der San Jose State University sowie Schülerinnen und Schüler sollten ihre Mathematik-Defizite mit Hilfe der Mathematik-MOOCs von Udacity und Online-Tutoren lindern. Das Resultat fiel deutlich schlechter aus als bei den vorherigen traditionellen Kursen  (Inside Higher ED) – ein erstes Beispiel dafür, dass auch in den MOOCs der sogenannte Matthäus-Effekt (benannt nach einem Passus aus dem Matthäus-Evangelium) auftritt, wie er allgemein in der Soziologie bekannt ist: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.“ Zum Beispiel in einer Studie über edX hat sich gezeigt, dass etwa ein Drittel der Teilnehmenden lehrend tätig sind oder waren. Etwa drei Viertel verfügen bereits mindestens über einen Bachelor-Abschluss.

Weiterlesen: Sieht so das Lernen der Zukunft aus?   Teil 3


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