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Ein Teil der Willkommenskultur

Wie kam die Idee zu „Refugee Phrasebook“ zustande, und wie wird das Projekt organisiert?

Markus Neuschäfer: Die Idee entstand in verschiedenen Facebook-Foren zur Flüchtlingshilfe, die im Juli und August 2015 vor allem im Berliner Raum aktiv waren. Die Teilnehmer überlegten, wie sie die Flüchtlingshelfer und Übersetzer vor Ort entlasten und unterstützen könnten, die auf einmal mit sehr vielen Menschen aus verschiedenen Sprachgruppen mit ähnlichen Kommunikationsproblemen konfrontiert waren. In einem Forum wurde der Vorschlag weiterentwickelt, nicht nur Übersetzungen zu Standardfragen zu sammeln, sondern sie auch zu teilen, in Tabellen zusammenstellen und als offene Dokumente in der Gruppe zirkulieren zu lassen. Das Vorgehen bekam eine Eigendynamik. Ich selber stieß Anfang August 2015 dazu, als das Projekt bereits eineinhalb Wochen lief und es schon rund 100 Phrasen gab. Durch die Bemühungen aller Beteiligten kamen sehr schnell viele freiwillige Übersetzer hinzu, so dass immer mehr Phrasen entstanden und auch juristische und medizinische Begriffe hinzugenommen und verschiedene Schwerpunkte gesetzt werden konnten. Heute haben wir eine Auswahl von 1.500 Phrasen, die in bis zu 44 Sprachen übersetzt sind. Wir wollen mit dem „Phrasebook“ Flüchtlinge nach ihrer Ankunft in Europa auffangen. Die Phrasen können keinen Sprachkurs ersetzen, aber erste Hilfe leisten.

Worin liegt der Schwerpunkt Ihrer Arbeit?

Markus Neuschäfer: Der Grundgedanke ist, eine Art Back Office von Hilfsinitiativen zu sein, die keine eigene Übersetzungsabteilung haben. Wir verwalten das Dokument, kümmern uns um die Sammlung von Phrasen und Übersetzungen, pflegen sie ein, erstellen Anleitungen und zeigen, wie man daraus Druckversionen machen kann. Meine Aufgabe dabei ist der technische Support. Ich selber komme aus einem Bereich, in dem viel mit offenen Daten gearbeitet wird, und ich habe dabei mitgeholfen, die Webseite aufzubauen, weitere Übersetzer zu finden, die Daten zu strukturieren und die Tabellen zu verwalten. Ich achte darauf, dass die Webseite funktioniert und die Printversionen abrufbar sind, damit wir die vielen freiwilligen Helfer so gut es geht unterstützen können. 

Dieses englischsprachige Video auf YouTube erklärt die Arbeit des Projekts "Refugee Phrasebook" 

Wer arbeitet an dem Projekt mit?

Markus Neuschäfer: Es gibt verschiedene Kooperationsstufen. Zunächst gilt: Alle Phrasen und Tabellen sind offen und frei für jeden nutzbar. Dann gibt es Leute, die bei uns nicht regelmäßig mitmachen, aber für bestimmte Projekte ein gewisses Anliegen haben. Sie hätten zum Beispiel gerne eine Printversion für die Ersthilfe in Italien oder wollen für Lesbos eine Version drucken und benötigen Unterstützung bei der Druckanleitung oder der Finanzierung des Drucks. Außerdem gibt es Initiativen oder einzelne Helfer, die sich direkt an uns wenden und mit denen wir auf Projektbasis zusammenarbeiten. Das feste Team besteht zurzeit aus acht Leuten. Wir verabreden uns ein- bis zweimal im Monat zu einer Telefonkonferenz und sorgen dafür, dass es weiter gut geführte Tabellen auf der Webseite gibt und dass Druckversionen zustande kommen.

Im Wesentlichen aber wird das Projekt von der Community getragen, die die Phrasen übersetzt hat. Die Hauptarbeit liegt in den Übersetzungen und dem eigentlichen Verteilen und Erfragen vor Ort, welche Printversionen gebraucht werden. Wir können von Berlin aus nicht die Auswahl treffen, was wo am ehesten gebraucht wird: eine Seite, die vor allem Links zu Rechtsberatungen zur Verfügung stellt, oder ein Sprachführer mit zwölf Seiten, der die wichtigsten Wörter abdeckt ... Die Printversionen (druckbare PDFs), die wir eingestellt haben, dienen mehr der Anregung, sich eigene Versionen zusammenzustellen. Die Übersetzer leben in der ganzen Welt verteilt, sie tragen das Projekt in die Breite. Es ist eine schöne Erfahrung zu sehen, wie viele Menschen gerne etwas zu dem Projekt beitragen möchten. Wir haben allerdings keinen festen Pool an Übersetzern, sondern sind auf den „Good Will“ engagierter Leute angewiesen. Zurzeit haben wir noch einige Lücken gerade in den afrikanischen Sprachen. Wir würden uns freuen, wenn jemand Übersetzungen beisteuert. Wer Interesse hat, nimmt am besten unter info@refugeephrasebook.de Kontakt mit uns auf. 

Wie groß ist das Interesse an dem Projekt?

Markus Neuschäfer: In der ersten Phase kam viel Aufmerksamkeit auch von Leuten, die nicht übersetzen, sondern einfach mitmachen wollten. Oft waren knapp 10.000 Besucher pro Tag auf der Seite. Seitdem an der Balkanroute die Grenzen geschlossen sind und sich die Problematik auf die südlichen Länder verteilt, hat die Aufmerksamkeit für das Flüchtlingsthema leider nachgelassen. Zurzeit haben wir meist nur so zwischen 200 und 300 Besucher, allerdings sind diese sehr aktiv: Sie nutzen die Tabellen, laden die Drucktemplates herunter, erstellen selber Druckversionen. Das spiegelt auch ein bisschen allgemein die Krise wider: Es gibt wenige Aktive, die aber den Großteil der Arbeit erledigen.

Wie wird der Druck der Printversionen finanziert?

Markus Neuschäfer: In der Regel finanzieren ihn die Initiativen vor Ort, aber wir versuchen auch, über die Facebook-Seiten Druckkosten aufzubringen. Wir haben kein Budget, kein Vermögen, aber wir können die Infrastruktur der Open Knowledge Foundation Deutschland e.V. nutzen, um Spenden abzurechnen. Nach vorheriger Absprache mit uns ist es möglich, für ein bestimmtes Projekt dort auf ein Konto zu spenden.

Welche Phrasen finden den meisten Absatz?

Markus Neuschäfer: Die meisten gedruckten Phrasen beziehen sich auf den allgemeinen Sprachbedarf, medizinische und juristische werden auch benutzt, aber eher in spezielleren Kontexten. Am häufigsten nachgefragt wird die Kurzversion, eine Auswahl von Fragen, die die tägliche Kommunikation abdecken und zwar meist analog zu den Flüchtlingsrouten, d.h. im Moment werden am ehesten in Griechenland und Italien neue Versionen angefragt und verteilt.

Für das offene Arbeiten und Teilen der Inhalte wurden Sie im März beim OER-Award 2016 mit dem Sonder-Award für Integration geehrt.

Markus Neuschäfer: Wir freuen uns sehr über die Aufmerksamkeit, allerdings hat „Refugee Phrasebook“ keine dahinter stehende Didaktik, und das ist auch nicht unser Anliegen. Uns geht es vor allem um erste Orientierung und erste Unterstützung. Integration, Sprachunterstützung, Empowerment sind uns wichtig. Und neben den Phrasen werden zunehmend auch Links und Icons immer bedeutender. Gerade in Italien und Griechenland, wo zurzeit viele Flüchtlinge ankommen, gibt es bereits ehrenamtliche medizinische Hilfen oder Rechtsberatungen, die aber keiner kennt, und dann ist es schon sehr hilfreich, wenn man diese entsprechenden Links weitergibt.

Natürlich freuen wir uns auch darüber, dass die Phrasen, dadurch dass sie offen sind, viel genutzt, heruntergeladen und weiterverarbeitet werden. Einige wurden zum Beispiel von Designern für Poster benutzt, aus anderen haben Entwickler eine App gemacht. Es gab auch verschiedene Anwendungen, die über das Gedruckte hinausgingen, zum Beispiel einen Einseiter, der ein Mini-Phrasebook auf einer Item-Seite zusammengestellt hat. Diese Wandlungsfähigkeit ist sehr beeindruckend. Man muss auch einfach sagen, wenn Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen, das Rote Kreuz usw. ihre Materialien mit einer freien Lizenz frühzeitig eingestellt hätten, dann hätten wir dieses Projekt gar nicht gemacht. Ihre Materialien sind alle mit einer geschlossenen Lizenz versehen.

Mitarbeiten

Wer Interesse daran hat Übersetzungen für das "Refugee Phrasebook" beizusteuern, kann unter  info@refugeephrasebook.de Kontakt mit den Projektorganisatoren  aufnehmen. 

Wie wird das „Phrasebook“ von den Flüchtlingen aufgenommen?

Markus Neuschäfer: Einmal wirkt es auf der Willkommensebene, es wird als Zeichen der Wertschätzung verstanden. Die Flüchtlinge merken dadurch, dass wir ihre Situation wahrnehmen und uns Gedanken machen und dass das Problem, verschiedene Sprachen zu sprechen, nicht unlösbar ist. In der ersten Phase wurde es viel von Helfern gedruckt, die Flüchtlinge an Bahnhöfen und anderen Übergängen willkommen hießen. Damit es dann aber auch wirklich Verwendung findet, müssen wir zukünftig noch mehr mit Icons arbeiten, weil nicht alle schreiben und lesen können.

Welche Ziele haben Sie für die Zukunft?

Markus Neuschäfer: Wir entwickeln zurzeit ein Tool auf der Webseite, mit dem man sich die Phrasen selber zusammenstellen kann. Unser Ziel ist, dass man sich mit einigen Klicks ein „Phrasebook“ mit einer speziellen Auswahl von Sprachen, Phrasen, Icons und Links erstellen kann, das man direkt als PDF herunterladen kann. Außerdem wollen wir mehr Links für verschiedene Regionen mit aufnehmen. Was wir immer noch suchen und worüber wir uns freuen, ist, wenn Leute eigene Printversionen in ihrer Region erstellen. Dazu brauchen wir Engagierte, die vor Ort mit Erstaufnahmelagern o.ä. klären, welche zwanzig Phrasen und welche zehn Links die meist gefragten sind, und daraus eine eigene Version machen. Wir freuen uns auch, wenn Helfer uns ihre selbst erstellten Druckversionen zuschicken, damit wir sie auf unserer Webseite anbieten und mit anderen teilen können.

Autorin: Petra Schraml

Dr. Markus Neuschäfer setzt sich für die Entwicklung und Sichtbarkeit von Bildungsangeboten mit freien Inhalten ein. Nach seiner Promotion in Germanistik arbeitete er zunächst im Verlagswesen, nun engagiert er sich für offenes Wissen als Berater und als Projektleiter bei der Open Knowledge Foundation Deutschland e.V.

Dieser Text wurde zuerst veröffentlicht unter dem Titel „Wir wollen mit dem Phrasebook Geflüchtete auf der Reise und bei der Ankunft in Europa unterstützen. - Hilfreiche Redewendungen zur ersten Orientierung in bis zu 44 Sprachen“ bei »Bildung + Innovation« im Innovationsportal des Deutschen Bildungsservers und kann unter der URL http://www.bildungsserver.de/innovationsportal/bildungplus.html?artid=1023 abgerufen werden.

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