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Die Wiederentdeckung der Freude am Lernen

Lernen aus neurobiologischer Sicht

Wir Menschen verfügen über ein zeitlebens lernfähiges Gehirn, das seine neuronalen Vernetzungen in Abhängigkeit von den individuell gemachten Erfahrungen bis ins hohe Alter immer wieder umbauen, erweitern, ergänzen und überformen kann.  Die aus der klassischen Pädagogik hervorgegangene Lernforschung geht davon aus, dass Lernen durch Training, Üben, Konditionierung und eine damit einhergehende Aktivierung der sogenannten “Belohnungszentren“ im Gehirn stattfindet. Deshalb wird bis heute immer noch versucht, Menschen durch ständiges Wiederholen des Lernstoffes und dessen emotionale Aufladung durch das in Aussicht stellen von Belohnungen oder die Androhung von Bestrafungen in Form positiver bzw. negativer Bewertungen dazu zu bewegen, sich das zu merken, was ihnen beigebracht werden soll und sich so zu verhalten, wie es von den jeweiligen Lehrpersonen und später den Vorgesetzten erwartet wird.

"Dieses neue Konzept geht davon aus, dass die Lernfähigkeit und damit das Lernen ein Grundmerkmal des Lebens ist."

Dieses alte und überholte Verständnis von Lernprozessen ist aber längst durch die neueren Erkenntnisse der Hirnforscher wie auch durch die immer offenkundiger zutage tretende Unwirksamkeit bei den auf diese Weise Belehrten nachhaltig erschüttert worden. Bloße Wissensvermittlung, Belehrung, sogar Belohnungen oder angedrohte Bestrafungen haben sich als ineffiziente Strategien zur Vermittlung und Aneignung von neuem Wissen und Können erwiesen. Daraus lässt sich nur schlussfolgern, dass sich als Folge dieser Erfahrungen ein anderes, nicht aus der Pädagogik sondern aus der Biologie abgeleitetes Lernkonzept durchsetzen wird. Dieses neue Konzept geht davon aus, dass die Lernfähigkeit und damit das Lernen ein Grundmerkmal des Lebens ist. Alle Lebewesen lernen, ihre inneren Beziehungen, also die Beziehungen ihrer Konstituenten, immer wieder so umzuorganisieren, so dass das Ergebnis dieser ständig ablaufenden Reorganisationsprozesse ihrem Überleben und ihrer Reproduktion dient. Diese Art des Lernens kennzeichnet auch alle sozialen Systeme, also Familien, Unternehmen und Organisationen, auch ganze Gesellschaften.

Alle lebenden Systeme verbrauchen Energie, um ihre innere Struktur und ihre Funktion aufrechtzuerhalten. Diejenigen, die es nicht schaffen, diesen Energieaufwand zur Aufrechterhaltung ihrer Struktur und Funktion zu minimieren, verlieren ihre innere Stabilität, gehen zugrunde und die in ihnen enthaltene Energie verteilt sich gemäß dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik wieder gleichmäßig im Universum. Einfacher ausgedrückt: Lebende Systeme organisieren sich selbst, indem sie lernen, möglichst wenig Energie zu verbrauchen. Die dabei gefundenen Lösungen werden als Lernerfahrung im inneren Beziehungsgefüge des betreffenden lebenden Systems strukturell verankert.

Den Zustand, in dem eine Zelle, ein Organismus, ein Gehirn oder eine Gemeinschaft die wenigste Energie verbraucht, nennen die Hirnforscher „Kohärenz“. Es ist ein Zustand, in dem alles, was in ihrem Inneren abläuft, möglichst gut zusammenpasst und optimal aufeinander abgestimmt ist – wenn also auf der Ebene einer Einzelperson das Denken, Fühlen, Handeln eine Einheit bildet, die aktuell wahrgenommenen Geschehnisse zu den Erwartungen passen, neue Wahrnehmungen gut integrierbar sind, die Beziehungen zu anderen Menschen als stimmig erlebt werden, die eigenen Grundbedürfnisse gestillt werden können und sich die betreffende Person in ihrer jeweiligen Lebenswelt sicher und geborgen fühlt.  Dieser ständig angestrebte kohärente Zustand wird allerdings immer wieder gestört. Es entsteht dann eine Inkohärenz. „Arousal“ nennen die Hirnforscher den damit einhergehenden Zustand, in dem es zu ungeordneten Entladungen von Nervenzellen kommt, die viel Energie verbrauchen. Das ist ein unangenehmer Zustand, er geht mit Aufregung, innerer Unruhe und Angst einher. Die betreffende Person sucht deshalb nach einer Lösung. Wenn sich die als geeignet erweist, wieder einen etwas kohärenteren, energiesparenderen Zustand im Gehirn zu erreichen, kommt es über die Aktivierung des sogenannten „Belohnungszentrums“ zur Ausschüttung von Botenstoffen, die das Auswachsen von Nervenfortsätzen und die Neubildung von Kontakten fördern. Die am Zustandekommen der jeweiligen Lösung beteiligten neuronalen Verknüpfungen werden dadurch verstärkt und gefestigt.  Das ist „Lernen“, und was dabei gelernt wird, sind die Lösungen, die eine Person für das betreffende Probleme findet. Das kann auch ein neuer Wissensinhalt, eine neue Erkenntnis oder der Erwerb einer neuen Fertigkeit sein. Auch auf der Ebene von Zellen, Organismen oder Gemeinschaften werden nicht die Probleme, sondern die erfolgreichen Lösungsstrategien in Form der dabei gefundenen und eingesetzten Mittel und Wege und der dabei entstandenen Strukturen und Mechanismen verankert, also „gelernt“.

Wie und was wir lernen

Das menschliche Gehirn ist zeitlebens so plastisch und in seinen Nervenzellvernetzungen bis ins hohe Alter umbaubar, dass jeder Mensch in der Lage ist, sich beim Heranwachsen all das anzueignen, was in einer bestimmten Gemeinschaft für sein Zusammenleben mit den anderen Mitgliedern bedeutsam ist. Das Besondere an uns Menschen ist, dass wir zeitlebens in der Lage sind, von anderen Personen alles zu lernen, was diese ihrerseits ebenfalls von anderen gelernt haben – aber nur dann, wenn wir das, was sie schon wissen und können, als bedeutsam für uns erachten.  Wenn es also eine Lösung für etwas bietet, das bis dahin noch unklar, noch nicht integrierbar, zu inkohärent war. Nur dann schauen wir genau hin, hören genau zu, fokussieren unsere Aufmerksamkeit auf das, was eine andere Person macht und sagt. Der betreffende Lernstoff muss also, wie die Hirnforscher es nennen, emotional aufgeladen sein. Wir müssen das Gefühl haben, dass etwas für uns und unser Leben wirklich wichtig ist. Sonst kommt es nicht zu der für jeden Lernprozess erforderlichen inneren Erregung, die mit einer Aktivierung der emotionalen Zentren und der vermehrten Freisetzung neuroplastischer Botenstoffe einhergeht. Und ohne die kann keine neue Lernerfahrung nachhaltig, also als erweitertes oder neu zusammengefügtes neuronales Netzwerk strukturell im Gehirn verankert werden.

"Der betreffende Lernstoff muss also, wie die Hirnforscher es nennen, emotional aufgeladen sein."

Emotional aufgeladen ist alles, was einer Person unter die Haut geht, weil es aus einem eigenen Bedürfnis erwächst, einer besonderen Begabung entspricht, also in dem oder der Lernenden als eigene Entdeckerfreude und Gestaltungslust entsteht – also als „Lösung“ für ein Problem oder ein Bedürfnis empfunden wird.

Der Lernstoff kann aber auch dadurch eine emotionale Aufladung bekommen, weil die betreffende Person, von der etwas gelernt wird, von dem oder der Lernenden als bedeutsam betrachtet wird, wenn also eine emotionale Beziehung zu dieser Person besteht. Hier besteht die „Lösung“ darin, dass auf diese Weise die Zuneigung oder Beachtung der bewunderten oder geschätzten Person erlangt wird. Der Lernstoff selbst ist dabei zweitrangig.

Eine dritte Möglichkeit der emotionalen Aufladung von Lernprozessen lässt sich dadurch erreichen, dass das Lernen mit der Androhung von Bestrafungen oder dem Versprechen von Belohnungen, also mit Lob und Tadel, verknüpft wird. Unter diesen Bedingungen wird jedoch primär – als „Lösung“ gelernt, wie sich Strafen vermeiden oder Belohnungen erlangen lassen. Dass der jeweilige Lernstoff so zumindest vorübergehend auch im Hirn verankert wird, ist dann eher ein meist nicht sehr nachhaltiger Nebeneffekt.

Wer nichts mehr lernen kann, ist tot

Angesichts der gegenwärtig propagierten Möglichkeiten der Nutzung von KI (künstliche Intelligenz, lernfähige Datenverarbeitungssysteme) ist es wichtig, den bisherigen, im Wesentlichen aus dem Verständnis von Konditionierungsprozessen abgeleiteten Lernbegriff endlich an den gegenwärtigen Stand der biologischen Forschung anzupassen: Die Fähigkeit zu Lernen ist Ausdruck der Lebendigkeit, nicht nur von uns Menschen, sondern aller Lebewesen auf allen Ebenen der Organisation des Lebendigen: von Prokaryonten über einzellige und vielzellige Organismen bis hin zu sozialen Gemeinschaften. Ohne diese Lernfähigkeit hätte das Leben weder entstehen noch seine Vielfalt an Lebensformen herausbilden können. Lernen ist das Ergebnis der fortwährenden Versuche all dieser Lebewesen, einen verlorengegangenen Ordnungszustand wieder herzustellen. In einer durch die Aktivitäten anderer Lebewesen sich ständig verändernden Lebenswelt ist aber genau das niemals erreichbar. Möglich ist es aber, dass ein in seiner Kohärenz gestörtes Lebewesen „lernt“, seinen eigenen inneren Ordnungszustand so zu verändern, dass anschließend alles wieder besser zusammenpasst (kohärenter und damit energiesparender ist). Ausgangspunkt all dieser Lernprozesse ist eine „subjektive“ Empfindung des betreffenden lebendigen Wesens, ein Gefühl oder ein Spüren, dass jetzt etwas nicht mehr so ist, wie es sein sollte. Daraus erwächst dann das für das eigene Überleben wichtige Bedürfnis („die Motivation“) es wieder passend zu machen. Digitale Roboter und Automaten haben prinzipiell keine Bedürfnisse. Sie können daher aus sich selbst heraus (intrinsisch motiviert) nichts lernen. Deshalb bleiben sie, so perfekt sie auch immer programmiert werden, tote Maschinen.

Wo die Lernfreude herkommt

Indem wir nun zu verstehen beginnen, dass es kein Leben ohne Lernen geben kann, wird auch deutlich, wie sehr die Freude am Leben mit der Freude am Lernen verbunden ist, oder, etwas deutlicher: Weshalb die Lernfähigkeit alles Lebendigen zwangsläufig etwas hervorbringen musste, das diese von Anfang an angelegte Fähigkeit ständig weiter zu steigern vermochte, nämlich die Freude am Lernen.

Was Zellen empfinden, wenn sie etwas hinzugelernt haben, wissen wir nicht. Wenn es ihnen hilft, eine schwierige Situation zu meistern und auf diese Weise zu überleben, sollte auch bei Ihnen etwas ausgelöst werden, das wir als eine positive Empfindung bezeichnen würden. Ähnlich dürfte es einem Polypen ergehen, wenn er einen Wasserfloh gefangen hat oder einem Baum, der an einem schwierigen Standort überlebt, weil er sein Wachstum an die dort herrschenden Bedingungen anzupassen lernt.

Aber das, was wir als Lernlust bezeichnen, können wohl nur all jene Lebewesen empfinden, die über ein Gehirn verfügen, dessen innere Organisation geeignet ist, ein derartiges Gefühl hervorzubringen. Interessanterweise sind das all jene Tiere, bei denen die Fähigkeit, etwas Neues zu lernen und im Gehirn strukturell zu verankern, am weitesten entwickelt ist. Was ein Affe oder ein Rabe oder ein Hund empfindet, wenn er etwas Neues hinzugelernt hat, wissen wir deshalb zwar noch immer nicht. Aber es kann nicht allzu weit von dem entfernt sein, was auch wir in einer solchen Situation empfinden: Lust, vielleicht sogar Begeisterung, aber zumindest Freude.

"Die Fähigkeit zu Lernen ist Ausdruck der Lebendigkeit."

Und diese Freude über eine wichtige Lernerfahrung, die jemand gemacht hat, geht interessanterweise immer mit einer gleichzeitig ausgelösten Freude darüber einher, dass er oder sie lebendig ist. Kinder spüren das noch im ganzen Körper. Die Fähigkeit zu Lernen ist also nicht nur Ausdruck der eigenen Lebendigkeit. Beides, Lernen und Leben sind auch über das gleiche Gefühl untrennbar miteinander verbunden. Das gilt auch für den umgekehrten Fall: Wer seine Lust am Lernen verliert, dem kommt damit auch seine Lust am Leben abhanden.

Leider geht vielen Menschen ihre angeborene Lernlust bereits sehr früh, oft schon während der Kindheit verloren. Aber sie kann zu jedem Zeitpunkt im Leben auch wieder erwachen oder wieder geweckt werden.

Wie die Lernfreude wieder erwachen kann

Erst wenn immer mehr Menschen diesen subtilen Prozess der transgenerationalen Weitergabe negativer Lernerfahrungen zu verstehen beginnen, wird es auch möglich, ihn zu durchbrechen. Es mag sein, dass die Hirnforschung nicht viel zur Verbesserung der praktischen Gestaltung von Lernprozessen beitragen kann. Aber die von den Hirnforschern gewonnene Erkenntnis, dass unser menschliches Gehirn zeitlebens plastisch und durch neue Erfahrungen veränderbar ist, lässt zumindest eine Schlussfolgerung zu: Wir könnten uns verändern. Wir könnten aufhören, einander zu Objekten unserer Absichten und Ziele, unserer Erwartungen und Bewertungen, unserer Belehrungen und unserer klugen Ratschläge oder gar unserer Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen zu machen. Wir könnten wieder lernen, einander als Subjekte zu begegnen. Wir könnten einander einladen, ermutigen und inspirieren, die Freude am miteinander Lernen und am Zusammenleben wiederzufinden. Dann würden sich auch die alten gebahnten Vernetzungsmuster in unseren Gehirnen von ganz allein verändern. Und unsere Kinder wären nicht länger gezwungen, die gleichen neuronalen, das Denken, Fühlen und Handeln bestimmenden Vernetzungsmuster in ihrem Hirn zu verankern wie wir.

 Wir könnten unser Zusammenleben also auch so gestalten, dass unsere Freude am Lernen zeitlebens erhalten bleibt. Unsere Gehirne hätten damit kein Problem. Im Gegenteil! Aber damit das geschieht, müssten wir es auch wollen. Das ist unser Problem. Denn wollen kann eine Person so etwas nur, wenn sie sich als Subjekt, als aktiver, lernfähiger und selbstverantwortlicher Gestalter ihres Zusammenlebens mit allen anderen Lebewesen versteht.

Welche Lernerfahrungen Heranwachsenden künftig erspart werden sollten

Noch im vergangenen Jahrhundert war die Auffassung weit verbreitet, die Fähigkeiten zu lernen sei ein Herausstellungsmerkmal des Menschen. Diese Auffassung ließ sich jedoch angesichts der immer zahlreicher werdenden Beobachtungen von z. T. sogar sehr komplexen Lernleistungen von Tieren nicht länger aufrechterhalten.

Sie wurde abgelöst durch die Vorstellung, nur wir Menschen seien in der Lage zu lernen, was im Kopf einer anderen Person vorgehe, was sie plant, welche Absichten sie verfolgt und was sie deshalb sagt oder tut. Als Theory of Mind bezeichnen die Hirnforscher diese besondere Fähigkeit. Aber auch sie ist offenbar kein Alleinstellungsmerkmal von uns Menschen. Auch die mit uns verwandten Primaten verfügen über diese Fähigkeit. Auch sie können offenbar schon lernen, sich ein Bild davon zu machen, eine Vorstellung davon zu entwickeln, was ein anderer Affe oder ihr menschlicher Betreuer vorhat und welche Absichten er oder sie verfolgt. Inzwischen sind sogar die ersten Hinweise dafür gefunden worden, dass auch Hunde und manche Vögel in der Lage sind, eine Vorstellung davon zu entwickeln, was für Absichten ein anderer verfolgt, was er also denkt und vorhat.

Dennoch gibt es etwas, das nur wir Menschen lernen können und was uns wirklich von den Tieren unterscheidet: Nur wir sind in der Lage zu lernen, die Lernfähigkeit anderer Lebewesen und vor allem die unserer eigenen Artgenossen, sogar die unserer Kinder, gezielt und bewusst zur Verfolgung unserer eigenen Absichten auszunutzen.

Nur wir können lernen, andere Tiere abzurichten und so zu dressieren, dass sie sich schließlich so verhalten und genau das tun, was wir wollen. Konditionierung nennen das die Lernforscher heute. Dass sich bei Tieren und erst recht bei anderen Menschen durch Belohnungen oder Bestrafungen gezielt Lernprozesse erreichen lassen, haben Menschen bereits sehr früh gelernt, lange bevor Pavlow mit seinen Experimenten an Hunden herausgefunden hatte, wie diese Konditionierung funktioniert.

Damit man einem Hund, einem Kanarienvogel, einem Affen oder einem anderen Menschen durch solche Konditionierungsprozesse etwas beibringen kann, ihn also lehren kann, etwas zu tun, was das betreffende Lebewesen normalerweise nicht oder zumindest nicht auf Kommando oder nur in einem bestimmten Kontext tun würde, muss der jeweilige Lehrmeister über eine Fähigkeit verfügen, die nur Menschen erlernen können. Er oder sie muss in der Lage sein, dieses andere Lebewesen nicht als Subjekt, sondern als Objekt zu betrachten und zu behandeln. Erst als solches kann er es für seine Konditionierungsabsichten benutzen.

Diese besondere Fähigkeit, andere Lebewesen oder gar seine Mitmenschen als Objekte zu behandeln, ist dem Menschen nicht angeboren. Sie wird erst durch einen eigenen Lernprozess erworben. Und zwar dadurch, dass die betreffende Person selbst von anderen zum Objekt ihrer Absichten und Ziele, ihrer Bewertungen und Belehrungen, ihrer Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen gemacht wird. Oft geschieht das bereits während der frühen Kindheit, es setzt sich fort in den Bildungseinrichtungen und kennzeichnet bis heute die Art unseres gegenwärtigen Zusammenlebens. Anstatt einander als Subjekte zu begegnen und voneinander zu lernen, machen wir uns gegenseitig zu Objekten und benutzen einander bei der Verfolgung unserer jeweiligen Absichten und Ziele.

Es handelt sich hierbei um eine bemerkenswerte Kulturleistung, die nur der Mensch mit Hilfe seines enorm komplexen Gehirns und nur aufgrund seiner Eingebundenheit in menschliche Gemeinschaften zu entwickeln imstande war. Als kollektive Lernleistung herausbilden konnten Menschen diese Fähigkeit deshalb, weil es unter bestimmten Bedingungen vorteilhaft war, andere als Objekte zu betrachten, zu behandeln und zu benutzen.

Konkret heißen diese Bedingungen Not und Elend, verursacht durch Naturkatastrophen, meist aber durch kriegerische Auseinandersetzungen. Allgemeiner ausgedrückt waren es fortwährende Bedrohungen der eigenen Existenz, also das durch Angst ausgelöste Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle, was zur Herausbildung dieser besonderen Kulturleistung geführt hat.

Und die wirksamste Bewältigungsstrategie, die von einer bedrohten und verängstigten menschlichen Gemeinschaft gefunden werden kann, ist der Aufbau einer möglichst streng organisierten, hierarchisch geordneten Sozialstruktur. Hier agieren nur noch wenige Personen als entscheidungs- und handlungsfähige Subjekte, alle anderen haben sich deren Entscheidungen, Maßnahmen und Anordnungen unterzuordnen.

Nur so konnten Soldaten geführt und Kriege gewonnen werden. So können bis heute aber nicht nur kollektive Bedrohungen abgewendet, sondern auch von den Anführern erlangte Besitztümer und Privilegien gesichert werden. Weil das in allen menschlichen Gemeinschaften bisher so bedeutsam war, sind auch überall gesellschaftliche Einrichtungen und Strukturen geschaffen worden, die sicherstellten, dass immer wieder genügend Kinder und Jugendliche bereit waren, sich als Objekte zur Verwirklichung der Absichten und Ziele anderer Personen benutzen zu lassen. Die Aufgabe dieser Einrichtungen besteht nicht darin, die Entfaltung der individuellen Talente und Begabungen der Heranwachsenden zu ermöglichen, sondern die Stabilität des jeweiligen Gesellschaftssystems zu gewährleisten.

Deshalb werden sich die gegenwärtigen Verhältnisse und Beziehungen in unseren Bildungseinrichtungen erst dann verändern, wenn sich auch die Verhältnisse und Beziehungen der Menschen auf der Ebene unserer gegenwärtigen Gesellschaft grundlegend zu verändern beginnen.

CC BY SA 3.0 DE by Gerald Hüther für wb-web (Januar 2022)


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