Fallbeispiel

Interessenskonflikt: Auftraggeber oder Teilnehmer?

Insbesondere in Auftragsmaßnahmen ist oft ein struktureller Konflikt angelegt, wenn die Auftraggeber Vorgaben machen, die einigen Lernenden unsinnig erscheinen und ihnen gute Gründe für ihren Widerstand liefern. Wie gehe ich als Kursleitende mit dem Dilemma um, einerseits die Interessen und Bedürfnisse der Teilnehmenden im Blick zu haben, andererseits aber die generellen Vorgaben erfüllen zu sollen?

Die Situation 

Frau Kant unterrichtet in einer Maßnahme des Job-Centers für Menschen mit „multiplen Vermittlungshemmnissen“, die für eine Reintegration in den ersten Arbeitsmarkt fit gemacht werden sollen. Dazu gehört, dass sie Bewerbungsschreiben erarbeiten sollen und Bewerbungen im Rollenspiel simulieren sollen. Als Frau Kant die Lernenden darüber informiert, dass am nächsten Tag Bewerbungsschreiben geübt werden soll, gibt es Unruhe in der Gruppe. Einige Teilnehmende machen deutlich, dass sie nicht kommen werden und sich krankschreiben lassen wollen. Frau Kant fragt irritiert nach, was denn am Bewerbungstraining so schlimm sein soll. Die Teilnehmer antworten durcheinander:

Andere halten dagegen und machen klar, dass Bewerbungstraining für sie wichtig ist. Der Einwurf von Frau Kant, dass das Job-Center das in dieser Maßnahme vorschreibt, bringt einige Teilnehmer zusätzlich auf.

Frau Kant muss reagieren. 

Mögliche Sichtweisen auf die Situation und darin bestehende Probleme 

Frau Kant ist gleich mit zwei Konfliktarten konfrontiert. Zum einen handelt es sich um einen Zielkonflikt, weil die Ziele der Lernenden nicht mit den Zielen des Jobcenters kompatibel sind. Zum anderen ist es für Frau Kant ein Rollenkonflikt, weil sie einerseits die Rolle der Lehrenden innehat, die nach ihrem Selbstverständnis auf die Bedürfnisse und Interessen ihrer Lernenden eingehen will,  aber gleichzeitig in der Rolle derjenigen ist, die die Vorgaben ihres Auftraggebers erfüllen soll. Unabhängig davon, wie sie reagieren wird, bleibt der Konflikt für sie als innerer Konflikt erhalten, weil sich eine optimale Lösung, die beide Seiten gleichermaßen zufrieden stellt, kaum finden lässt.

Die Einwände der Lernenden, die sich gegen das Bewerbungstraining wehren, sind nachvollziehbar. Aus ihrer subjektiven Sicht stellt das Bewerbungstraining eine für sie sinnlose Zumutung des Jobcenters dar. Sowohl die Argumente, wegen des Alters kaum noch eine Chance zur beruflichen Reintegration zu haben, als auch der Hinweis, dass schriftliche Bewerbungen im Segment der Helferberufe eine Ausnahme sind, sind stichhaltig und nachvollziehbar. Der Einwand, bereits zum dritten Mal Bewerbungstrainings machen zu sollen, wird in Maßnahmen dieses Typus häufig geäußert, weil viele Lernende bereits früher in Trainings- und Feststellungsmaßnahmen damit konfrontiert waren und deshalb kaum einen Zusatznutzen erwarten.

Andererseits gibt es in der Gruppe Lernende, für die das Bewerbungstraining sinnvoll und nützlich ist und die auch Interesse daran haben das Thema zu bearbeiten.

Mögliche Vorgehensweisen in der Situation

  1. Frau Kant weist die Lernenden darauf hin, dass eine Verweigerung der Mitarbeit im Bewerbungstraining für sie nicht akzeptabel ist. Sie macht den Lernenden klar, dass sie eine Verweigerung an das Jobcenter weitermelden müsste, was für die Lernenden zu Kürzungen bei den Transferleistungen des Jobcenters führen kann. Mit dieser Verhaltensweise hätte sich Frau Kant eindeutig positioniert und deutlich gemacht, dass die Vorgaben des Jobcenters für sie verbindlicher seien als die – begründeten – Bedürfnisse und Interessen ihrer Lernenden. Das Vertrauen, das für gelingendes Lernen notwendig ist, wäre damit möglicherweise nicht mehr gegeben. Die Lernenden würden Frau Kant weniger als Pädagogin, sondern vorrangig als Erfüllungsgehilfin des Jobcenters sehen.
  2. Frau Kant stellt es den Lernenden frei, ob sie am Bewerbungstraining teilnehmen wollen oder nicht. Damit ist der Konflikt zwar in der Lerngruppe entschärft, für Frau Kant aber mit dem Risiko verbunden, dass sie bei einer nicht angekündigten Kontrolle durch das Jobcenter ihre Arbeit verlieren könnte. Das sollte sie nicht riskieren.
  3. Frau Kant bittet die Verweigerer, sich am nächsten Tag im Kurs selbst zu beschäftigen, also Zeitung oder Buch mitzubringen oder sich am PC zu beschäftigen. Mit dieser Vorgehensweise unterteilt sie die Gruppe in diejenigen, von denen die Leistung Bewerbungsschreiben üben abverlangt wird und in die, von denen keine Leistung außer Selbstbeschäftigung gefordert wird. Das kann zur Demotivation derjenigen führen, die sich mit den Bewerbungen abmühen. Die Verweigerer werden sich möglicherweise fragen, warum sie anwesend sein sollen, wenn eh von ihnen nichts an Leistung erwartet wird und sie die Zeit außerhalb der Maßnahme besser nutzen könnten. Frau Kant geht auch bei dieser Vorgehensweise das Risiko ein, dass sie bei einer Kontrolle durch den Auftraggeber mit negativen Konsequenzen rechnen muss.
  4. Frau Kant nimmt die Einwürfe ernst und bereitet für diejenigen, die nicht am Bewerbungstraining teilnehmen wollen, Aufgaben vor, die einzeln und in Kleingruppen bearbeitet werden sollen. Sie wählt dabei Aufgaben aus, die die bisher behandelten Inhalte aufgreifen und kann sich so einen Eindruck verschaffen, was vom bisher Vermittelten verstanden wurde und „hängen blieb“. Gleichzeitig verabredet sie, dass alle ihre bereits erstellten Unterlagen mitbringen und ihr vorlegen sollen, um sich abzusichern, dass auch wirklich jeder über aktuelle Unterlagen verfügt. Damit sichert sie sich einerseits gegenüber dem Auftraggeber ab, signalisiert aber auch der Gruppe, dass sie Leistungsansprüche an alle stellt.

Herleitung und Begründung der Vorgehensweisen

Wenn Frau Kant die Vor- und Nachteile der jeweiligen Vorgehensweise abwägt, wird sie sich voraussichtlich für das unter 4. beschriebene Vorgehen entscheiden. Sie macht damit der Lerngruppe gegenüber deutlich, dass sie die individuellen und die kollektiven Interessen der Lernenden ernst nimmt und sich nicht vorrangig als Ausführende von Jobcenter-Anweisungen begreift. Sie zeigt damit auch, dass sie Ansprüche an die Leistung der Lernenden stellt, sonst hätte sie das unter 1. genannte Vorgehen gewählt, das den geringsten Aufwand und Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen der Teilnehmenden bedeutete hätte. Ihre Vorgehensweise erscheint auch gegenüber dem Jobcenter gut begründbar und würde bei einer eventuellen Kontrolle nicht zu negativen Konsequenzen für Frau Kant führen. Das Dilemma, dass Frau Kant sich im Unterricht mit Erwachsenen aus pädagogischen Überlegungen heraus an den Prinzipien der Ermöglichungsdidaktik orientiert, das Jobcenter mit seinen Vorgaben aber immer noch von einer Erzeugungs- oder Instruktionsdidaktik ausgeht, ist nicht auflösbar und wird Frau Kant vermutlich im Kursverlauf noch des Öfteren beschäftigen.

CC BY SA 3.0 DE by Rosemarie Klein und Gerhard Reutter für wb-web

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